Rezension

KI und menschliche Faktoren - eine potenziell brisante Mischung...

Schwachstellen -

Schwachstellen
von Yishai Sarid

Bewertet mit 4 Sternen

Beängstigende Vision, die womöglich gar nicht so weit von der Realität entfernt ist - hinterlässt einen verstörenden, bleibenden Eindruck!

Sowohl seine Unfähigkeit, soziale Situationen zu meistern, menschliche Signale zu interpretieren und adäquat darauf zu reagieren als auch seine hohe Intelligenz machen Siv zu etwas Besonderem. Seine große Begabung, weit in die Tiefen von PCs und Internet-Netzen eintauchen zu können, haben ihn zu einem Nerd und gefragten Hacker werden lassen - und so erscheint es nicht verwunderlich, dass er gleich nach dem Abitur und seinem Militärdienst von einer rennomierten Firma angeheuert wird. Einer Sicherheitsfirma, die die Interessen Israels vertritt, ihre virtuellen Überwachungs-Systeme jedoch auch in andere Länder verkauft - alles im Dienst gegen den Terrorismus. Und die Künstliche Intelligenz ist weit gereift...

 

"... und unterwegs dachte ich über Bulkas Vision nach, den Menschen von allen Seiten auf offene und versteckte Weise, von innen und außen, in Rede und Denken auszuloten, was es alles ermöglichen würde, den Menschen bis auf die Wurzel, bis in die Nervenzentren zu kennen, ihn sämtlicher Lügen und Masken zu entkleiden." (S. 115)

 

Siv ist ein wenig selbstbewusster Charakter, der seine Bestätigung allein in seiner hohen Fachlichkeit und Intelligenz sucht. Emotionen verunsichern ihn und werden meist rasch beiseite geschoben, auch wenn er sich danach sehnt, irgendwo dazu zu gehören. Er lechzt nach Lob und Anerkennung und ist bereit, weit dafür zu gehen. Er sieht und erlebt gerade bei seinem Auftrag in einem osteuropäischen Land, in dem große Unruhen herrschen, bedrückende, beängstigende, lebensgefährliche Situationen - und gerät trotzdem kaum in Aufregung und ins Nachdenken. Er aktzeptiert die Souveränität der Befehlenden und sieht sich nur als ausführendes Organ, Mitschuld ausgeschlossen. Außer einem gelegentlichen leichtem Schwindel zeigt Siv keine erkennbare Reaktion...

Verhält sich jemand ihm gegenüber freundlich, denkt Siv, er meint es auch so und ist ein guter Mensch und fast schon so etwas wie ein Freund. Er käme gar nicht auf den Gedanken, jemandem zu misstrauen, der sich ihm gegenüber nett verhält. Siv merkt zwar, dass es ihm nicht gelingt, wirkliche Freundschaften oder gar Liebschaften zu initiieren, ist aber sofort von der guten Absicht des Gegenübers überzeugt, wenn der andere lächelt oder nette Dinge sagt. Er glaubt das alles 1:1, kann nicht zwischen den Zeilen lesen oder Ironie, Halbwahrheiten, Hinhalteparolen erkennen. Das kann einem schon leid tun. Für mich erklärt sich dadurch aber auch, dass Siv die Ethik seines Berufs kein bisschen hinterfragt. Die Entscheidungsträger werden schon wissen, was sie tun, alles wird schon seine Berechtigung haben, und wenn gesagt wird, das System wird gegen Terroristen eingesetzt, dann ist das selbstredend auch so. Gefährlich - für alle...

 

"Ich warf einen Blick auf die Häftlinge. Sie standen mit hängenden Köpfen und weichen Knien da, waren verstummt und wirkten erledigt. Ich bin nicht schuld, sagte ich mir, bin nur eine kleine Figur in einem großen Spiel, dessen Regeln andere bestimmt haben. Mich interessiert nicht, wer gewinnt und wer verliert. Ich tue nur meine brillante Arbeit." (S. 152)

 

Gerade die Ereignise in dem nicht näher bezeichneten osteuropäischen Land wirkten beim Lesen auf mich äußerst bedrückend, und doch bleibt man mit den Gefühlen alleine. Man möchte ihn schütteln, diesen Siv, der keinerlei Verantwortung für sein Tun übernimmt, keine Fragen stellt und selbst fast wie eine Maschine wirkt in seiner kritiklosen Befehlserfüllung. Anders als bei Kriegspiloten, die versuchen, die Bomben ihrer Flugzeuge auf anonymen Kreuzen zu platzieren, was für manchen wohl eher wie ein Computerspiel anmutet denn wie eine Kriegshandlung, bekommt Siv hier teilweise durchaus direkt die Folgen seines Tuns präsentiert. Er hält jedoch an der Doktrin fest, dass die Betroffenen sich die Konsequenzen selbst zuzuschreiben haben, schließlich haben sie lt. Auftraggeber im Vorfeld revolutionär oder terroristisch agiert.

Zurück in Israel bekommt Siv die gewünschte Anerkennung, und doch beginnt er das System auch für eigene Zwecke zu nutzen. Er spioniert aus reinem Interesse und aus Langeweile Nachbarn und Kollegen aus, kümmert sich auf diese Art auch unauffällig um seine drogenabhängige Schwester - und erkennt schließlich, dass sich das System auch gegen Menschen richten kann, die ihm wichtig sind. Doch als Siv sich zu einem sehr konsequenten Schritt entschließt - erscheint hier ein Happy End möglich?

Yishai Sarid hat hier eine beängstigende Vision entworfen, die meist nüchtern in der Darstellung erscheint - passend zur Nerdhaftigkeit des Ich-Erzählers -, beim Leser jedoch durchaus Emotionen freisetzt. Viele der geschilderten Möglichkeiten der Künstlichen Intelligenz erscheinen gar nicht so weit hergeholt - und dass die Firmen und die Entwickler der Überwachungssysteme nicht gerade einer Ethik-Kommission angehören, versteht sich wohl auch von selbst. Geheimhaltung und Gewinnoptimierung - Amnesty International dürfte hier wohl auch keinen Zugang erhalten. Das Schicksal von Siv erscheint dabei nicht vorrangig von Bedeutung - ein derart distanzierter Charakter ruft wohl einfach wenig Empathie hervor.

Die Möglicheiten sind einfach beängstigend, das was wäre wenn. Oder auch das: wie weit ist es schon gediehen? Und wie positioniert sich jeder einzelne dazu? Macht man alles vorbehaltlos mit, in der Hoffnung, selbst unterm Radar zu bleiben und ähnlich wie Siv jede Mitverantwortung abzulehnen? Oder positioniert man sich klar gegen bestimmte Eingriffe von Seiten der Regierung und von Großkonzernen? Mit der Gefahr, womöglich selbst in den Fokus der KI zu gelangen?

KI und menschliche Faktoren - eine potenziell brisante Mischung... Ein unbequemer Roman, der über das Lesen hinaus nachhallt...

 

© Parden