Überwältigt
Bewertet mit 5 Sternen
Diesen Roman einer Familie habe ich gestern in die Hand genommen und ihn seitdem nicht mehr beiseite gelegt.
Mit der Ansprache "Hüseyin...weißt du, wer du bist...?" betrete ich die neue Wohnung des Familienvaters in Istanbul und nehme Besitz von ihr so wie ich nach und nach die Mitglieder der Familie kennenlerne. Ihren Sorgen und Wünschen, ihren Begierden und Sehnsüchten lausche.
Hüseyin stirbt plötzlich und hinterlässt Spuren in den Geschichten seiner Kinder Ümit, Sevda, Perishan und Hakan sowie seiner Frau Emine.
Jede dieser Hauptpersonen bringt sich und ihre Sicht der Dinge ein - in einzelnen Kapiteln nacheinander - fein sind die Fäden und Verbindungen gezogen, nach und nach wird mir dieses farbenfrohe und manchmal so triste und trübe Familienmosaik deutlich, kann ich Stein für Stein zusammensetzen.
Ich bestaune das Leben jeder Tochter und jedes Sohnes und auch vor allem der Mutter. Der abwesende Vater erscheint ein wenig im Hintergrund beschrieben und wird doch immer wieder bedacht.
Die einzelnen Kapitel sind kleine Bücher für sich, so dicht und gefühlvoll erzählt Fatma Aydemir, so leidenschaftlich und lebendig erscheinen mir die Beziehungen der Einzelnen und der gesamten Familie miteinander.
Es ist mir, als wird ein köstliches orientalisches Gericht bereitet - und ich sitze mit am Tisch, immer wieder kommt eine raffinierte Zutat hinzu und immer wieder fällt mir eine weitere große Träne auf die Hand, wenn ich mit jeder und jedem mitfühle. Geheimnisse und Verborgenes erfahre, Mißverständnisse und Schweigen deute.
Diese Familiengeschichten gehen mir sehr unter die Haut und machen das Herz schwer zugleich und den Kopf leichter, wenn ich bei aller Tragik Sprache und Schreibstil der Autorin genieße. Welche Welt- und Lebensweisheiten sind in den verschlungenen Pfaden der Familienmitglieder und in und zwischen den Zeilen der jungen Autorin sichtbar! Intensiv gestaltet sie die inneren Monologe, kraftvoll die Dialoge und zeigt dabei, wie die fünf Verbliebenen aufeinander zu und voneinander weggehen.
Jedes Schicksal hat es in sich - und es geht immer noch eine Nuance weiter - das nächste Geheimnis wird mir enthäutet - wie beim Schälen einer Zwiebel.
Die "Dschinns" huschen vorbei, tauchen auf und verschwinden, sind nie ganz weg.
Die beiden Du-Kapitel der Eltern (anfangs der Vater, zuletzt die Mutter) umrahmen und umarmen die mittleren Kapitel der Kinder.
Am Ende schließt sich der Kreis und mit Emines "...Dein Herz geht auf... ist meines längst übervoll. (Es klingt noch eine ganze Weile nach und lässt meine momentan akuten Sorgen fast vergessen...)
Im Roman wird sehr viel kleine und große Welt von Kultur und Lebensweise in Deutschland und der Türkei bis hin zur Religion ausgelotet - das Leben in Deutschland ist Erfahrungsbereich vor allem der vier Kinder Emines und Hüseyins.
"Dschinns" ist so großartig und lebendig erzählt, ich kann leider nur fünf Sterne vergeben, es hätte unbedingt einen sechsten verdient.
Ich habe einen großen Schatz für meine Lesetruhe gefunden.