Rezension

Assimilation hat keine Geschichte, Familien brauchen eine

Dschinns -

Dschinns
von Fatma Aydemir

„Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich; jede unglückliche Familie jedoch ist auf ihre besondere Weise unglücklich.“ Was seit Tolstois Anna Karenina für russische Familien gilt, trifft genauso auf türkische oder kurdische Familien zu, erst recht, wenn sie ihre Heimat verlassen und in eine neue Heimat gezogen sind. Was jedes einzelne Familienmitglied begleitet, das sind die „Dschinns“ der Vergangenheit. Und eise bösen Geister nähren sich nicht nur aus dem Familienunglück, sondern auch und vor allem aus dem Schicksal der Einzelnen.
In Fatma Aydemirs großartigem Familienportrait „Dschinns“ wird die Familie Yilmaz von einem Schock erschüttert: dem Tod des Vaters Hüseyin. Die vier Kinder erzählen angestoßen durch diesen Verlust ihre Geschichte und dürfen hierbei ihren eigenen Tonfall nutzen. Die Söhne Ümit und Hakan entpuppen sich hierbei als Getriebene, als unselbständig, fast passiv Erleidende. Die Töchter Sevda und Peri als aktive, nicht minder Leidende. Dass Hakan sich als Kanake fühlt in seiner deutschen Umgebung, wirft Peri im vor: „Du bist so viel mehr als das, warum bestimmst du nicht selbst, was du sein willst? Warum musst du die Rolle übernehmen, die sie dir überstülpen?“ (S. 270) Die Töchter stülpen lieber selbst.
Was alle Kinder bedrückt, ist das große Schweigen in der Familie, die ungeklärte Herkunft der Familie und der Ingrimm der Mutter Emine. Diese stellt das Leben mit ihrem Gatten unter eine passive Aggressivität, die einerseits alles hinnimmt, was „die Älteren“ oder „man“ so von ihr als Frau verlangt, gleichzeitig aber in der Familie alle Fäden in der Hand hat, den Alltag glücklich oder unglücklich zu gestalten.
Emines Kapitel und das Eröffnungskapitel Hüseyins sind in der 2. Person geschrieben –und das ist unglaublich stark. Als Leser befindet man sich gleich im unmittelbaren Dialog mit der Figur, spricht sie an, legt ihr Inneres bloß und nimmt von Angesicht zu Angesicht Anteil. Gleich die ersten Seiten bis zu Hüseyins letztem Herzschlag sind exzellent gelungen.
In Hüseyin und Emine liegt der Schlüssel zu den Dschinns der Familie – nämlich in ihrer eigenen Geschichte und in der gemeinsamen Erzählung, die sie im Familienleben mit ihren Kindern über die Jahre geschrieben haben: die Summe ihrer Fehler, ihres Schweigens und ihrer Vorwürfe. Die besondere Weise, in der die Familie Yilmaz unglücklich ist (um zu Tolstoi zurückzukehren) hat mit ihrer Herkunft zu tun: Es ist eine türkische Familie aus Kurdistan, die in Deutschland wohnt und hier anzukommen versucht - oder eben nicht. Die Autorin setzt sich mit der Einbettung der Familie in die deutsche Gesellschaft auseinander und deckt auf, dass ein Teil des Familienschweigens mit dem Versuch zu tun hat, nicht aufzufallen. Weder in der Türkei aufzufallen noch in Deutschland aufzufallen: „Assimilation […] hat keine Geschichte. Sie war das Gegenteil von Geschichte.“ (S. 182) Aber wie soll man Wurzeln entwickeln ohne Geschichte? Wie kann man sich Flügel wachsen lassen ohne zu wissen, wo man abhebt?
„Dschinns“ ist ein ganz starkes Buch mit einem klaren Erzählkonzept (zum Beispiel wird das Wort „Dschinn“ exakt in der Mitte des Buches erstmals erwähnt), einer literarischen Sprache und einem bewusstseinserweiternden Anliegen, gerade für Leser der Mehrheitsgesellschaft.