Rezension

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Überzogene Emotionalität - nicht glaubwürdig

Was Nina wusste - David Grossman

Was Nina wusste
von David Grossman

Bewertet mit 2 Sternen

Grossman, solch ein gewaltiger Name in der Literaturszene – geschenkt. Was Nina wusste – ein insgesamt enttäuschendes Lektüreerlebnis.

Überzogene Emotionalität - nicht glaubwürdig

Der Erzähleingang geriert sich als eine Art literarische Schnitzeljagd - der Leser ist aufgerufen, minutiös alle Hinweise auf Zeitgefüge, wechselnde Perspektiven, bewusste Verrätselungen in eine sich beständig erweiternde Struktur zu integrieren, in der Erwartung, dass am Ende das eigene Durchdringen und Verstehen eines komplexen biographischen Gefüges stehen werden.

Das Ergebnis ist ein verstörendes Panoptikum: der Roman präsentiert ein Familiengeflecht von lauter Versehrten. Tuvia und Rafi, gezeichnet durch das Leiden und Sterben von Frau und Mutter. Vera, die auch noch nach 12 Jahren den Selbstmord ihres Ehemannes in den Fängen des Geheimdienstes nicht verkraften kann und für die ihre Beziehung zu diesem Mann immer noch relevant ist, trotzdem aber gewillt ist, eine neue Bindung einzugehen. Andererseits ist sie nicht in der Lage, ihrer offenbar schwer traumatisierten Tochter eine Stütze zu sein. Nina erscheint in diesem Tableau als der kaputteste Charakter. Die Last ihrer Erlebnisse, die der Leser bis zu dieser Stelle kaum erahnen kann, zerstört ihr Leben und das der Menschen, die sich ihr nahe fühlen. Kaum verwunderlich, dass auch Gilis Entwicklung von Anfang an unter einem dunklen Stern steht. Offenbar droht auf Rafi an seiner unauslöschlichen Liebe zu ihr zu zerbrechen. Letztlich ist es nicht nachvollziehbar, dass Vera so überaus positiv geschildert wird. Innerhalb der Kibbuz-Gemeinschaft fungiert sie als heißgeliebte Matriarchin, die Liebe und Lebenslust ausstrahlt. Dass sie sich berufen fühlt, an Rafi Gutes zu tun, während sie das Leiden der eigenen Tochter zu ignorieren scheint, setzt diese Figur in ein schiefes Licht.

Vollkommen verknäuelte Familienbeziehungen endlich einmal aufarbeiten zu wollen, bevor es zu spät ist, das ist eine sehr private Sache. Aber einen guten Dokumentarfilm zu drehen, ist eine öffentliche Veranstaltung. Beides miteinander zu verknüpfen, wirkt geradezu obszön, eine Form von Prostitution, die intimsten Geheimnisse von Menschen der eigenen Familie derartig verfügbar zu machen.

Der Roman kulmuliert in der gemeinsamen Reise dreier Generationen, und plötzlich zündet ein emotionales Feuerwerk. Die Beschreibung der Zährtlichkeiten zwischen Mutter Vera und Tochter Nina während der Autofahrt streifen hart die Grenze zum Kitsch. Und wie plakativ, dass im Kontrast draußen ein Unwetter tobt. Und dass Nina ihre Familie über das Fortschreiten ihrer Demenzerkrankung informiert, legt ja noch eine Schippe drauf in der Darstellung dieser an Konflikten menr als reichen Familie. Klar, irgendwie muss es ja motiviert werden, dass der Fokus von der übermäßig idealisiert geschilderten Liebesbeziehung zwischen Vera und Milosch auf das unausweichliche Schicksal Ninas verlegt wird. Aber dass diese jauchzende Darstellung der Liebesgeschichte der Eltern so plötzlich eine Kehrtwende in Ninas Gefühlshaushalt hervorrufen soll, ist doch eine sehr gewagte Idee. Dysfunktionale Familienverhältnisse, traumatische Erlebnisse muss man aushalten können, in der Realität, als Autor, als Leser. Am plausibelsten erscheint noch die Figur der Gili, die es nicht geschafft hat, sich radikal von diesem für sie toxischen Familienverband loszusagen. Ihre Überlebensstrategie scheint in der Verschanzung hinter einer zyischen Diktion, einem schnodderigen Tonfall zu liegen, die sie weitaus jünger erscheinen lässt als ihr tatsächliches Alter. Stattdessen ist sie mit ihren neununddreißig Jahren immer noch abhängig von der Anerkennung durch den Vater Rafi - ergreift sogar einen Beruf, der sie auch in diesem Bereich in seinem Dunstkreis hält - nährt ihren Hass auf Nina und vergöttert die Großmutter, deren Idealisierung gänzlich unglaubwürdig ist. Ausgerechnet sie als das erste Opfer der politischen Verhältnisse soll gänzlich unversehrt aus allem erlittenen Leid hervorgegangen sein und ihre Vitalität und Menschenliebe ungebrochen wie eine Monstranz vor sich hertragen?

Fazit: Ist es die Ansiedelung dieses Romans im mediterranen Kulturkreis, die eine solche überhitzte emotionale Gestimmtheit vorherrschen lässt? Dass am Schluss sich so alles in Wohlgefallen auflöst, die Beteiligten sich ihre Wunden lecken und offenbar zu dem Schluss kommen, dass alle sich furchtbar lieb haben, das entbehrt doch aller Plausibilität.

Grossman, solch ein gewaltiger Name in der Literaturszene - geschenkt. Was Nina wusste - ein insgesamt enttäuschendes Lektüreerlebnis.