Rezension

Wo er recht hat, hat er recht...

Was Nina wusste - David Grossman

Was Nina wusste
von David Grossman

...könnte man unserem Bundespräsidenten antworten auf seine Laudatio für David Grossman. Er meint nämlich, dass man sich seinen Personen bald so nah und vertraut fühlt, dass man quasi selbst zur Verwandtschaft gehört. "Auch der Leser wird gewissermaßen Teil der Familie." Diese Art der Lobesworte auf der Rückseite eines Buches tendieren leider meist zur Übertreibung, hier ist das jedoch nicht der Fall. Man wird hineingesogen in diese ungewöhnliche Familie.

Fraglich ist, ob man Teil dieser Familie sein möchte. Durch ein unaussprechliches Leid ziehen sich in diesem Roman psychische wie auch physische Verletzungen durch drei Frauengenerationen einer Familie. Vera, die Großmutter, war Gefangene in einem von Titos Gulags. Nina, die Mutter, streunert ihr Leben lang herum und verletzt ihre Liebsten Mal um Mal. Und Gili, die Tochter und auch Ich-Erzählerin dieses Romans, zeigt Unsicherheiten nicht nur im Umgang mit ihrer Familie sondern auch ihrem Partner sowie ihrer eigenen Rollenfindung. Die Frauen dieser Familie sind jede auf ihre Weise geschädigt, so meint Gili in einer Situation: "[Er] Tut, wozu Vera, Nina und ich in diesem Moment nicht in der Lage sind, jede wegen ihrer ganz persönlichen Verkrüppelung." Einen Spannungsbogen bekommt das Buch durch den gemeinsamen Trip durch das ehemalige Jugoslawien, um den Ort von Veras Pein aufzusuchen und ihre Lebensgeschichte in Form eines Dokumentarfilms festzuhalten.

Mit solch drastischen Sätzen, wie den oben zitierten, bringt Grossman an vielen Stellen des Buches knallhart auf den Punkt, was die Protagonistinnen umtreibt. Die schonungslose und durchaus mit Witz durchsetzte Sprache des Autors stellt dabei für mich die größte Stärke dieses Buches dar. Wenn während des Trips durch das ehemalige Jugoslawien mal eben Schlaglöchern im Straßenbelag in der Größe von "Massengräbern" ausgewichen wird, stockt der Leserin der Atem und trotzdem bleibt das Gesamtbild pointiert und stimmig. Grossman nutzt Szenerien, um über Metaphern das Verhältnis zwischen den Familienmitgliedern mit Feingefühl auszuloten. So gelingt es auch dem Autor hervorragend, sich vor allem in diese drei Frauen hineinzuversetzen und ein transgenerationales Trauma authentisch darzustellen. Leider geht ihm bezüglich der mitunter drastisch angelegten Figuren - siehe Nina - zum Ende hin die Luft aus. Innerhalb weniger Seiten wird ein großes Drama, kleiner als es sein müsste. Der Trip bekommt so eine allzu simple, kathartische Wirkung.

Äußerst interessant empfand ich insgesamt das Konzept des Buches. Uns erzählt Gili als sogenanntes "Skriptgirl" durch ihre Mitschriften von diesem Trip die Geschichte ihrer Familie. Passend zu ihrer Rolle "hinter der Kamera" bleibt diese Figur auch insgesamt mit ihren Bedürfnissen am meisten hinter den grell dargestellten Figuren der Mutter und Großmutter zurück. Dieses Vehikel zum Zusammenfügen von Erinnerungspassagen ist ein mir neuer, kreativer Ansatz. Er erfordert jedoch auch volle Konzentration beim Lesen. 

Dieses Buch ist inhaltlich wie formell kein leichter Stoff, es lohnt aber allemal, sich diesem Stoff zu stellen. Es handelt sich hier um erstklassige Literatur. Eine klare Leseempfehlung von meiner Seite.