Rezension

Wer hat heute noch Zeit?

Hast du Zeit? -

Hast du Zeit?
von Andreas Winkelmann

Bewertet mit 5 Sternen

Die Zeit ist ein kostbares Gut und nicht immer gehen wir sorgsam mit ihr um. Sie zerrinnt uns zwischen den Fingern, wir laufen ihr hinterher, haben wieder mal keine Zeit. Es liegt bei uns, was wir aus den Minuten, den Stunden und Tagen machen und solange kein anderer darunter leidet, können wir sie auch verschwenden. Und da kommt er ins Spiel, denn ihm wurde etwas genommen. Er leidet. Und nun ist es genug. Sie sind dran. Sie werden dafür bezahlen. Ihre Zeit läuft ab.

„Alles ist fremdes Eigentum. Nur die Zeit ist unser. Dieses so flüchtige so leicht verlierbare Gut ist der einzige Besitz, in den uns die Natur gesetzt hat, und doch verdrängt uns darauf, wer da will.“

Kurz blicken wir vier Jahre zurück zu Maren Liefers, einer Bestatterin, in deren Kühlkammern ein über Neuzigjähriger wartet. Seine Zeit ist abgelaufen, Maren hingegen hätte genug davon, denn ihr Unternehmen läuft eher schleppend und sie wartet auf „Kundschaft“. Eine Gestalt nähert sich ihr…

Jahre später ist es die Krankenschwester Conny, die instinktiv spürt, dass sie verfolgt wird. Als ihr dann auf dem Weg nach Hause einer nachschleicht, ruft sie die Polizei. In den Büschen wird einer aufgegriffen, seine harmlose Erklärung ist nicht recht glaubhaft und doch müssen sie ihn laufen lassen. Und dann ist es zu spät für Conny. Die Polizei unternimmt nichts, sie legt den Fall zu den Akten. Michelle, ihre Kollegin und beste Freundin, kann und will dies nicht akzeptieren, sie springt über ihren Schatten und nimmt nach Jahren der Sprachlosigkeit mit ihrem Vater, dem ehemaligen Polizisten Grotheer, Kontakt auf. Er gräbt tief, seine privaten Ermittlungen sind so halb legitim und doch lässt er nicht locker, auch ergreift er seine Chance, sich seiner Tochter wieder anzunähern.

Dann ist da die Fotografin Lilly, die nach ihrer Lebensgefährtin Felicitas sucht. Die junge Schornsteinfegerin wurde direkt aus ihrem Fahrzeug entführt und ist seither nicht auffindbar. Sie ist nicht die einzige, die von ihren Lieben schmerzlich vermisst wird, die Polizei jedoch sieht keinen Grund, sich intensiv darum zu kümmern. Denn Erwachsende müssen sich nicht abmelden, sie können ihren Aufenthaltsort, wo auch immer er sein mag, selbst bestimmen. Ein schreckliches Szenario für die Angehörigen und doch verschwinden Jahr für Jahr Menschen, so etliche davon tauchen nie wieder auf.

„Hast du Zeit?“ Diese so lapidar dahingesagten drei Worte haben es in sich. Während des Lesens betrachte ich mir das Cover nochmal und sehe es ganz neu, beurteile diese Sanduhr mit ganz anderen Augen. Neben der Suche nach den Vermissten kommt mehrmals die Täterperson zu Wort, seine Erzählung scheint zunächst keinen rechten Sinn zu ergeben, was sich jedoch mehr um mehr ändert.

Andreas Winkelmann beherrscht das subtile Spiel mit seinen Lesern perfekt. Er fächert das Zeitguthaben jeder seiner Protagonisten auf und bald denke ich, der Täterfigur auf der Spur zu sein, zu vieles deutet auf diese zwanghaft agierende, äußerst unsympathische Person hin. Und dann werden die Karten wieder neu gemischt. So einige geraten in den Focus, auch stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien die Opfer ausgesucht werden. Und warum. Weil sie es verdienen? Weil sie mit seiner Zeit Schindluder getrieben haben? Die Spannung hält von der ersten Seite, dem total verwirrenden Prolog, bis zuletzt an. Das Motiv und das gar perfide Spiel um die Zeit wird sichtbar, das ganze Ausmaß dessen, was damit geschehen ist, ist doch irgendwie unbegreiflich. Das Buch habe ich an einem Tag ausgelesen, es hat mich atemlos durch die Seiten fliegen lassen, das finale Ende hat mich schwer schlucken lassen - es ist definitiv nichts für Zartbesaitete.