Rezension

Ein Wunder der Kinder- & Jugendliteratur!

Wunder - R. J. Palacio

Wunder
von R. J. Palacio

Bewertet mit 5 Sternen

Umwerfend! Einzigartig! Wahnsinnig toll! Allein um für solch ein Buch die passenden Worte zu finden, die dem Inhalt, dem Leseerlebnis an sich, gerecht werden, bedarf es einfach mal ein paar Tage Zeit, um durchzuatmen, um zu reflektieren, in sich zu gehen und die Macht der Emotionen auf sich wirken zu lassen. »Wunder« muss man genießen, den sanften Nachhall durch seinen Kopf strömen lassen...

Der einzige Grund dafür, dass ich nicht normal bin, ist der, dass mich niemand so sieht. – Seite 9

Umwerfend! Einzigartig! Wahnsinnig toll! Allein um für solch ein Buch die passenden Worte zu finden, die dem Inhalt, dem Leseerlebnis an sich, gerecht werden, bedarf es einfach mal ein paar Tage Zeit, um durchzuatmen, um zu reflektieren, in sich zu gehen und die Macht der Emotionen auf sich wirken zu lassen. »Wunder« muss man genießen, den sanften Nachhall durch seinen Kopf strömen lassen und dabei im günstigsten Fall die Playlist anhören, die ich anhand der im Buch genannten Songtitel zusammengestellt habe: Beautiful von Christina Aguilera ist eines davon, ein Song der mir persönlich vor dem Lesen gut gefallen hat und der mit seiner Message perfekt zum Buch passt. Weise ausgewählt, liebe Frau Palacio! Ich möchte heute ein Buch vorstellen, das eingeschlagen hat wie eine Bombe, es entfachte einen Sturm der Gefühle und hinterließ ein Kribbeln im Herzen, einen leichten Salzgeschmack auf den Lippen, nachdem die eine oder andere Träne über die Wange kullerte. Darf ich vorstellen? Liebe Leser, hier kommt ein…

W u n d e r

August Pullman, von seiner Familie liebevoll Auggie genannt, lebt mit Eltern und seiner Schwester Via in einem Viertel von New York. Er ist ein 10jähriger Junge, und er ist etwas ganz Besonderes. Auggie kam mit einem, nein zwei genetischen Defekten auf die Welt, hat unzählige Operationen hinter sich und dennoch kommt kaum ein Ton des Klagens über seine Lippen. Der tapfere kleine Kerl hat noch nie eine Schule besucht, doch das soll sich nun ändern. Seine Eltern haben ihn an der örtlichen Middle School angemeldet und das behagt ihm nicht so wirklich. Was, wenn ihn dort alle anstarren? Manche sind sich dessen ja gar nicht bewusst, sind einfach nur neugierig, doch Auggie spürt diese Blicke. Die Schule verändert sein Leben und das seiner Eltern, es ist ein neuer Schritt in Richtung Zukunft…

Danke!

Dani, wenn du diese Zeilen liest, dann fühle dich einfach mal gedrückt, denn ich danke dir: Danke, dass du mich auf dieses Buch aufmerksam gemacht hast, denn »Wunder« hat mich völlig für sich vereinnahmt. Ich habe gejubelt, als ich es im Rahmen der Leserunde als eine von zehn Blogger(inne)n zugeschickt bekam, danke an den Hanser Verlag für das Leseexemplar!

Ich habe das »WUNDER« vor zwei Tagen beendet, leise zugeklappt und es erst einmal auf mich wirken lassen. Es kommt öfter vor, dass ein Buch in der Seele nachhallt, dass es unheimlich berührt hat, aber Raquel J. Palacios Buch hat eine ganz besonders nachdrückliche und einprägsame Melodie in meinem Herzen anklingen lassen, im wahrsten Sinne des Wortes.

Der erste Eindruck

Eine Kiste thront auf dem Kopf des Jungen. drumherum farbige Akzente, die Buchstaben des Wortes “Wunder” in bunten Farben. Würde ich jetzt auf die Symbolik eingehen, fällt mir spontan dazu ein: Die sechs Kreise stehen für die vielfältigen Erlebnisse in Augusts Leben, Stationen auf der Reise ins Ich, auf dem Weg durch eine Welt, die ihn von allen Seiten anstarrt. Die Kiste auf dem Kopf als Schutz vor den neugierigen Augen zieht mit Sicherheit weniger Aufmerksamkeit auf August als sein eigenes, von Operationen gezeichnetes Gesicht. Seine Mitmenschen sollen sein Wesen, seinen Charakter sehen und sein Lachen hören, anstatt ihn ob seiner Narben und seines Anders-Seins anzustarren. Eine gelungene Botschaft, welche das Cover mit sich trägt, wie ich finde.

Das englische Cover gefällt mir auch sehr gut. Es ist schlicht in hellem Blau, Weiß und Schwarz gehalten, ein mit flotten Strichen skizziertes Kindergesicht ist darauf zu erkennen, man sieht nur ein Auge, die Ohren sind ein wenig schief und der Buchtitel bildet die Augenbraue. Stilistisch als auch auf die Fontwahl bezogen gefällt mir dieses Cover genauso gut wie das der deutschen Ausgabe. Beide stellen die Besonderheit des Protagonisten in den Vordergrund, ohne aufdringlich zu sein.

Ein Buch für Herz & Seele

Dieses Buch ist ein einziges, beeindruckendes Zitat. Ich kann mich gar nicht entscheiden, welche Sätze mich am meisten berührt haben. Die Autorin schreibt mit einfachen Worten, so direkt und authentisch, ungeschinkt und natürlich, ich liebe jede Seite, jedes Wort. »Wunder« brachte mich zum Weinen, aber auch zum Schmunzeln, und es erntet meine aufrichtige und tiefe Bewunderung für einen kleinen tapferen Menschen, der äußerlich einen Makel hat, doch innerlich keine reinere, liebevollere Seele haben könnte.

Wenn ich eine Wunderlampe finden würde und einen Wunsch frei hätte, würde ich mir wünschen, ein normales Gesicht zu haben, das nie jemandem auffallen würde. Ich würde mir wünschen, dass ich die Straße entlanggehen könnte, ohne dass die Leute diese Sache machen, sobald sie mich sehen, dieses Ganz-schnell-woanders-Hinschauen. Ich glaube, es ist so: Der einzige Grund dafür, dass ich nicht normal bin, ist der, dass mich niemand so sieht. – Seite 9

Wenn man ein wenig recherchiert, findet man heraus, dass Raquel J. Palacio die Inspiration zu diesem Buch in einem kleinen Mädchen vor einer Eisdiele fand, die eben zu diesen Menschen gehört, bei denen – ich zitiere “mutierte Gene” Deformationen am Körper verursacht haben. Es gibt so viele Auggies dort draußen und wenn sie eines verdient haben, dann: unendlich viel Liebe. Unsere Gesellschaft reagiert oft mit Abneigung, gar mit Häme und Beleidigungen, hält Abstand von diesen Menschen, doch das haben sie nicht verdient. Sie sind Menschen wie du und ich, sie haben eine Seele und sie haben Gefühle. Dieses Buch zeigt uns, wie diese Menschen ihre Umwelt, wie sie uns betrachten. Wir sehen überrascht aus, können einen erschrockenen Gesichtsausdruck oft nicht verbergen oder werfen vermeintlich unauffällige Blicke von der Seite. Doch das alles nehmen diese Menschen sehr wohl war, es verletzt sie doch sie zeigen es nicht immer. Sie sind tapfer und kämpfen sich durchs Leben.

Ich wünschte, jeder Tag wäre Halloween. Wir könnten alle immerzu Masken tragen. Dann könnten wir uns in Ruhe kennenlernen, bevor wir zu sehen kriegen, wie wir unter den Masken aussehen. – Seite 92

Sie benötigen dafür viel Kraft, genau wie ihre Eltern, die einen tagtäglichen Kampf gegen Vorurteile und abschätzende Worte ausfechten müssen. »Liebt einander bedingungslos« ist die Botschaft dieses Jugendbuchs und es trifft damit mitten ins Herz. Es hält uns einen Spiegel vor und erinnert uns daran, wie nichtig manche unserer Probleme im Vergleich sind. Jeder hat sein Päckchen zu tragen, doch wie froh können wir sein, dass wir gesund auf die Welt gekommen sind!

Der Wunsch nach Normalität

August möchte ein normales Kind sein, wie jedes andere Kind zur Schule gehen, mit anderen zusammen Spaß haben. Doch in vielen Situationen muss er einfach stark sein und beweist gerade da, wieviel Kraft und Reife er mit seinen gerade mal 11 Jahren in sich trägt, mehr als das seine oft oberflächlichen Altersgenossen von sich behaupten können. Manchmal möchte er einfach nur in die Arme seiner Eltern flüchten und beschützt werden, denn Kinder können grausam sein – oft auch unbewusst. Auggie hat Hobbies, er liebt Star Wars. Er liebt Halloween und jetzt ratet mal, als was er sich zum Fest des Gruselns verkleiden möchte? Er möchte Boba Fett sein. Wer das ist? Boba Fett ist ein genetischer Klon, eine perfekte Kopie von Jango Fett, und er ist berühmt. Er erarbeitete sich als Kopfgeldjäger Ruhm und Anerkennung im Star-Wars-Universum und gilt als einer der Besten seiner Zeit. Kaum etwas zeigt wohl so sehr den Wunsch nach Normalität in diesem Jungen wie seine Liebe zu einer Figur, die “perfekt” ist. Dessen sind sich auch seine Eltern bewusst, und seine Schwester:

Ich wusste, es war der einzige Abend des Jahres, an dem er genau wie jedes andere Kind sein konnte. Niemand wusste, dass er unter der Maske anders war. Für August musste sich das wirklich fantastisch anfühlen. – Seite 137

Eine Laune der Natur, ein genetischer Zufall hat dafür gesorgt, dass Auggie sich am liebsten unter einem Astronautenhelm verstecken möchte und es kaum erwarten kann, sich Ende Oktober jeden Jahres unter eine Maske zu schlüpfen und so auszusehen wie jedes andere Kind: bunt verkleidet und an diesem Tag einfach mal normal. Er fällt nicht auf unter all den Kürbisköpfen, Fledermäusen und Screammasken, im Gegensatz zu den restlichen 364 Tagen des Jahres.

Mal aus einer anderen Perspektive…

Als ich das Buch zum ersten Mal aufschlug, erwartete ich auf den folgenden fast 400 Seiten die Geschichte eines ganz besonderen Jungen, doch ich bekam mehr, viel mehr. Das Überraschende: Die Autorin hat die Handlung nicht nur aus Auggies Sicht geschrieben, sondern wechselt in insgesamt acht Abschnitten die Erzählperspektive des Ich-Erzählers und teilweise sogar den Schreibstil. Bereits der zweite Abschnitt betont die Sichtweise seiner Schwester Via. Verwirrend – doch ich merkte schnell, wie sehr dies zur Vielfältigkeit und Farbe des Buches beiträgt. Trotz Perspektivenwechsel fühlte ich sofort wieder intensiv mit und konnte mich hervorragend in die Personen aus Auggies Umfeld hineinfühlen. Unglaublich, wie gut Raquel J. Palacio dieser Kunstgriff gelungen ist. Die folgenden sechs Abschnitte reflektieren unter anderem die Eindrücke zweier Schulkameraden, der fünfte Teil beschäftigt sich mit Justin, einem zunächst unscheinbar wirkenden Charakter. Was mir sofort auffiel, war der veränderte Erzählstil sowie das vollständige Missachten der Regeln zur Groß- und Kleinschreibung innerhalb dieses Abschnitts. Dies eröffnet viele Möglichkeiten zur eigenen Interpretation, schafft Raum für Überlegungen, warum Justins Part – er wirkte mehr wie ein Tagebucheintrag – in dieser Form geschrieben ist. Solcherlei Stilmittel lockern natürlich den Lesefluss zusätzlich auf und überraschen, doch hat das hier nicht im Geringsten gestört. Im Gegenteil, »Wunder« war für mich ohnehin eine einzige Überraschung im höchst positiven Sinne.

Um jemanden zu lieben, braucht man keine Augen, nicht wahr? Man fühlt es einfach im Inneren. So ist es im Himmel. Da gibt es nur Liebe, und niemand vergisst diejenigen, die er liebt. – Seite 273

Die letzten drei Passagen wechseln zwischen einer weiteren für den Plot wichtigen Person und Augusts Sicht und enden auch mit den Eindrücken des Jungen. Auf der jeweils ersten Seite finden sich Zitate aus bekannten Songs wie z.B. Christina Aguileras »Beautiful« und bekannten Literaturzitaten aus der Feder Shakespeares oder Antoine de Saint-Exupérys, was mir ebenfalls außerordentlich gut gefiel und die Gedanken bereits vor dem Lesen des jeweiligen Abschnitts wieder auf den Protagonisten zu lenken vermochte. Ich hielt kurz inne, las mir in Ruhe die Worte bekannter Künstler und literarischer Größen durch und stellte fest, dass diese Zeilen genau an diesen Stellen einfach passten, nicht nur ob des Wiedererkennungswertes. Sie fügten sich nahtlos in das Gesamtgefüge des Buches ein, das in ungewöhnlich kurze Kapitel eingeteilt wurde. In Verbindung mit der sehr einfach strukturierten Syntax hemmt das aber nicht den Leserhythmus.

Sie sagte Worte, von denen ich weiß, dass sie mir helfen sollen, aber Worte können mein Gesicht nicht verändern. – Seite 77

Einfach mal spüren, wie es sich anfühlt, gemieden zu werden, angestarrt zu werden, ein Außenseiter zu sein – diesen Spiegel hält uns »Wunder« direkt vor die Nase und zeigt uns unverblümt, wie es sich in einem Körper lebt, der auf andere abstoßend wirkt. Gleichzeitig schildert die Autorin die Eindrücke seiner Familie: Wie empfindet das die Schwester, wie sehr kann sie sich in ihren Bruder hineinversetzen, wie tapfer ist auch sie, verzichtet und steckt zurück. Sie hat gelernt damit umzugehen, nicht die Nummer 1 zu sein. Das ist die Kehrseite und die Autorin hat wirklich ein Händchen dafür, ihre Charakteren unheimlich viel Identifikationspotential zu verleihen. Sie sind so lebendig, wie das Mädchen und der Junge von nebenan. Einfach wow!

Mr. Browns Maximen

In »Wunder« gibt es einen Englischlehrer namens Mr. Brown. Der gute Mann dachte sich, zu jedem Monatsbeginn eine Maxime an die Tafel zu schreiben, die anschließend besprochen wird und am Ende des Monats von den Schülern als Aufsatz verarbeitet wird. Nachdem das Schuljahr vorbei war, bat dieser Lehrer seine Schüler, in den Ferien ihre ganz eigene persönliche Maxime auf eine Postkarte zu schreiben und ihm zuzuschicken. Manche Schüler, so berichtet er, schreiben ihm heute noch Postkarten mit eben jenem Zitat, welches sie durch ihr Leben begleitet. Ich finde das eine ganz wunderbare Idee! Das Buch inspiriert, wie kaum ein Zweites.

September:  Wenn du die Wahl hast, ob du recht behalten oder freundlich sein sollst, wähle die Freundlichkeit. (Dr. Wayne W. Dyer) – Seite 377 {Mr. Browns Maximen}

Ich könnte jetzt noch stundenlang weiterschreiben, wie unglaublich dieser Buchschatz ist, wie sehr mir der kleine August ans Herz gewachsen ist, so sehr wie selten ein Charakter in einem Buch. Erstaunlich, mit welch einfachen Worten die Autorin es schaffte, soviel Gefühl im Herzen beim Lesen eines Buches hervorzurufen. Oft bebten die Lippen, oft lachten die Augen denn das Buch hat Seele. Ich habe es gefühlt, wisst ihr? Das kann man kaum beschreiben, ich finde kaum Worte um euch das zu erklären. Ihr müsst es selbst spüren. Lest dieses Buch und fühlt das »Wunder« selbst. Ich kann und möchte dazu gar nicht mehr schreiben, denn es würde dem Buch trotzdem nicht gerecht werden. Manchmal reicht es, zu schweigen und die Menschen es selbst herauszufinden lassen, was man erlebt hat. Denn das ist es: ein Leseerlebnis der besonderen Art. Das hier passt übrigens sehr gut dazu, seht es euch an, mir ging so das Herz auf…

Mein Fazit: Ein Buch, das unvergessen ist, das ich immer wieder lesen werde und mit Leib, Herz & Seele gespürt, gelesen und geliebt habe. Ich kann nur jedem raten, mein erstes Lesehighlight in diesem Lesejahr zu kaufen und selbst tief in Auggies Welt einzutauchen, seine Wahrnehmung verstehen und betrachten zu lernen und ein wenig darüber zu reflektieren, wie wir auf andere Menschen zugehen. Wie werden wir wahrgenommen? Es lohnt sich!

Prädikat: Lesehighlight 2013 der Büchernische