Rezension

Luisa „fliegt ins Leben“ - wer gab ihr die Flügel?

Der Tag, an dem ich fliegen lernte - Stefanie Kremser

Der Tag, an dem ich fliegen lernte
von Stefanie Kremser

Luisa „fliegt ins Leben“ und das ist beinahe wörtlich zu nehmen. Aber wer verlieh ihr die Flügel?
War es die Mutter Aza, die die Tochter wenige Stunden nach der Geburt aus dem Fenster der Klinik wirft, immerhin aus dem 5. Stock. Und sich danach aus dem Staub macht?
Oder war es Fergus, der hoffnungslos romantische Engländer, der gerade rechtzeitig vorbeigeht und Luisa auffangen kann?
Oder war es Paul, ihr Vater, der sich nach dem ersten Schock entschließt, das Kind allein großzuziehen?
Zumindest die beiden letzteren gehören zu den Flügelbauern, denn Luisa wächst in einer Studenten-WG auf, zu der außer ihrem Vater noch Max und Irene gehören. Fergus, der noch keine Unterkunft in München hat, zieht kurzerhand in das durch Azas Weggang freigewordene Zimmer ein. In dieser Umgebung erlebt Lulu, wie sie genannt wird, die ihre ersten Jahre, macht ihre Erfahrungen mit Kindergarten und Schule und es vergehen Jahre, bis das Fehlen einer Mutter überhaupt ein Thema wird. Sie vermisst Aza nicht, wie auch? Ganz anderes jedoch Paul, der Azas Alleingang und ihre Entscheidung, sang- und klanglos zu verschwinden, einfach nicht akzeptieren und schon gar nicht verwinden kann.
Irgendwann bricht die Wohngemeinschaft auseinander und Paul muss entdecken, dass seine langjährige Mitbewohnerin Irene immer gewusst hat, warum und wohin Aza verschwunden ist.
Paul hat gerade sein Studium beendet, ein guter Zeitpunkt um sich auf die Spuren von Lulus Mutter zu begeben. Er bewirbt sich in einer Schule in Brasilien als Referendar und zieht mit seiner Tochter für zwei Jahre nach Sao Paulo. Zuvor erkunden sie allerdings die letzten Spuren Azas in Deutschland und finden so das kleine bayrische Dorf Hinterdingen, aus dem sich im Jahre 1893 beinahe die Hälfte aller Bewohner auf den Weg nach Amerika machten. Nur landeten sie leider nicht in dem angestrebten Land, stattdessen verschlug es sie nach Brasilien. Über die Hintergründe dieser Auswanderung, über die schweren Startbedingungen in der neuen Heimat erfahren wir einiges durch drei überlieferte Briefe, die Paul und Lulu in Hinterdingen bekommen und die im Wesentlichen den Mittelteil des Buches bilden.
Im letzten Teil begleiten wir Paul und Lulu, wie sich in ihrer der neuen Umgebung versuchen einzuleben. Wir sind dabei, als Fergus nach einigen Monaten zu Besuch kommt und sie schließlich zu dritt aufbrechen, um das zweite Hinterdingen im brasilianischen Niemandsland zu suchen.
Nur soviel – sie finden das Dorf, aber ob sie Aza finden, ob sie Antworten auf so viele Fragen bekommen, das muss man dann schon selbst lesen.

Stefanie Kremser erzählt eine durch und durch liebevolle Geschichte, die sich durch immer wieder sehr schöne Formulierungen auszeichnet. Und die tiefe Nachdenklichkeit mit herzerfrischendem Humor verbindet.