Rezension

Spannender Unterhaltungsroman für Bibliophile

Die Bibliothek im Nebel -

Die Bibliothek im Nebel
von Kai Meyer

Bewertet mit 4 Sternen

REZENSION – Auf den Tag genau ein Jahr nach seinem Bestseller „Die Bücher, der Junge und die Nacht“ (2022) erschien im November wieder im Knaur Verlag mit „Die Bibliothek im Nebel“ ein zweiter bibliophiler Roman des Schriftstellers Kai Meyer (54), dessen Handlung zum Teil wieder im Graphischen Viertel in Leipzig spielt, der historischen Heimat Hunderter Verlage, Druckereien und Buchhandlungen, wenn auch 20 Jahre früher als der erste. Man kann also, wenn man einen Zusammenhang zwischen beiden Romanen herstellen will, diesen zweiten in gewisser Weise als Vorgeschichte zum ersten sehen, zumal wir jetzt erst erfahren, wie und warum der Russe Grigori zum Gehilfen des Buchhändlers im Leipziger Antiquariat Montechristo wurde. Doch ist dies auch schon die einzige Gemeinsamkieit beider Romane, so dass „Die Bibliothek im Nebel“ völlig unabhängig vom früheren Band als eigenständiger Roman gelesen werden kann.

In einer „Mischung aus historischem Roman, Liebesgeschichte, Familiensaga und Krimi“, wie der Verlag diesen neuen Roman Meyers bewirbt, tauchen wir ein in das vorrevolutionäre Russland und lernen in Sankt Petersburg die wohlhabende Familie Kalinin kennen sowie deren Tochter Ofeliya und ihren ebenfalls im Haus lebenden Cousin, den jungen Bibliothekar Artur. Noch genießt die Familie ihren Wohlstand und verbringt viele Urlaubswochen im Luxushotel Château Trois Grâces an der Cote d’Azur – dort gemeinsam mit der deutschen Druckerei- und Verlegerfamilie Eisenhuth aus Leipzig. Doch nach Ermordung der Eltern und Tochter Kalinin durch Schergen des allmächtigen Geheimdienstes des Zaren, flieht Artur als einziger Überlebender nach Deutschland. In Leipzig hofft er seine heimliche Liebe Mara wiederzutreffen, die vor Jahren von den Kalinins aufgenommen worden war, seit einiger Zeit aber als Verlobte eines Eisenhuth-Sohnes in Leipzig lebt. Zehn Jahre später (1928) findet die kleine Liette auf dem Dachboden des Hotels Château Trois Grâces in zurückgelassenen Reisekisten der während der Revolution ermordeten Russen ein altes, mit Schloss gesichertes Buch. Weitere 30 Jahre später (1957) bauftragt Liette – inzwischen Alleinerbin und Direktorin des Hotels, den deutschen „Gentleman-Ganoven“ Thomas Jansen mit der Suche nach Mara, der früheren Eigentümerin dieses Buches und Erbin der neben dem Hotel stehenden und seit dem Ersten Weltkrieg verfallenden Villa der Eisenhuths mit ihrer gelegentlich im Nebel versinkenden Bibliothek.

Auch wenn der Roman sehr eindringlich den Alltag von Arm und Reich im vorrevolutionären Sankt Petersburg schildert, ebenso das scheinbar unbelastete Jetset-Leben der Reichen und Schönen an der Cote d’Azur, während an den Fronten der Erste Weltkrieg tobt, ist „Die Bibliothek im Nebel“ kein typischer historischer Roman. Die Historie liefert allenfalls die Kulisse für einen spannenden Unterhaltungsroman, der vielmehr durch seine geheimnisvolle, stellenweise sogar unheimliche Atmosphäre und Szenerie besticht. Meyer schreibt sehr authentisch wirkend, schreibt auch recht lebhaft, lässt uns gelegentlich erschauern, löst dann aber wieder die düstere Stimmung durch amouröse Szenen auf, in denen er die Verliebtheit Arturs mit der von einem unergründlichen Geheimnis umgebenden Mara einfließen lässt oder auf anderer Zeitebene das sich zu einem Liebesverhältnis langsam wachsende Vertrauen zwischen Liette und Thomas.

Einem direkten Vergleich mit dem früheren Band „Die Bücher, der Junge und die Nacht“ hält dieses neue Buch nur bedingt stand: Der leider viel zu häufige Szenen- und Zeitenwechsel zwischen den Jahren 1917, 1928 und 1957 ist manchmal so verwirrend, dass es nach Lesepausen schwerfällt, sich spontan wieder in der Handlung zurechtzufinden. Es empfiehlt sich also zügiges und pausenloses Lesen. Vor allem aber enttäuscht: Während der Roman doch gerade von seiner unterschwellig und stellenweise unheimlich düsteren Atmosphäre lebt, gleitet das Buch gegen Ende durch die unnötige „Parade“ vieler grausam zugerichteter Toter leider auf das Niveau eines schlechten Krimis ab. Wer sich davon nicht stören lässt, für den bleibt „Die Bibliothek im Nebel“ ein absolut spannender und abwechslungsreicher Unterhaltungsroman vor historisch interessanter Kulisse.