Rezension

Über das Sterben - warum ausgerechnet Karl V.?

Reise nach Laredo -

Reise nach Laredo
von Arno Geiger

Bewertet mit 5 Sternen

Kurzmeinung: Ein sensibler Roman über das Sterben.

In seinem neuesten Roman widmet sich Arno Geiger den letzten Tagen von Karl V. (1500 – 1558). Es empfiehlt sich, vorab entsprechende Daten über Karl V. nachzulesen, denn allzu viele Informationen über den Herrscher gibt Arno Geiger nicht an die Hand. Er widmet sich dem Innenleben. Und weil Arno Geiger das Gewicht auf das Innerliche legt, ist die „Reise nach Laredo“ zwar ein Roman mit einem historischen Sujet, aber kein historischer Roman.
Karl V. hat sich nach Yuste in Spanien zurückzogen, er leidet schwer an Gicht und sollte aus lebenserhaltenden Gründen Diät halten, sich zumindest in Essen und Trinken mäßigen. Dazu ist Karl V. aber nicht imstande. Er leidet unter Fresssucht. Dies wird von dem Autor zwar nicht verschwiegen, jedoch thematisch nicht in den Vordergrund gestellt, was meines Erachtens etwas schönt. Als Karls Ende naht, fällt er ins Koma.

Der Kommentar und das Leseerlebnis:
Arno Geigers Formulierungskunst fasziniert und begeistert mich immer aufs Neue. Kleine Kostproben: „Der Wahnsinn des Sommers klingt ab“, „In den Pappeln neben der Klosterkirche rieselte der Abend“ oder: „Er brachte die Saiten der Gitarre zur Ruhe, wie jemand für die Geliebte die Bettdecke glatt streicht“.
Wegen der Ästhetik seiner Schreibweise, gehört Arno Geiger zu meinen Lieblingsautoren. Dennoch muss ich an dem neuen Roman herumkritteln, er ist mir gar zu innerlich. Karl V. macht sich viel Gedanken über sein Seelenheil. Und er denkt sehr intensiv über sein Leben nach. Wer bin ich, wenn ich nicht Herrscher bin? Hier höre ich ja fast Richard David Precht reden: „Wer bin ich und wenn ja, wie viele?“
Es stellt sich freilich sehr richtig die Egozentrik des abgedankten Herrschers heraus: er kann kaum jemals über sich selbst hinausdenken, wie auch, ist er doch der Herrscher aller Herrscher und der Mittelpunkt der Welt. Das hat man ihm so beigebracht. Er hat es verinnerlicht.
Arno Geiger lässt zusammen mit einem unehelichen Sohn Karls V., dem 11jährigen Geronimo, ein Geschwisterpaar auftreten, das den Cagots angehört. So macht der Autor diese in Spanien verfemten Menschen sichtbar, die nichts weiter verbrochen haben als zu existieren. Über Geronimos Her- und Zukunft erfahren wir kaum etwas, auch hier müssen wir bei wiki nachlesen (danke, wiki). Er wurde nach dem Tod Karls V. Befehlshaber der spanischen Flotte und Statthalter der habsburgischen Niederlande unter dem Namen Don Juan de Austria. Nun bin ich schon groß und kann selber googeln, dennoch hätte ich diese Information gerne Arno Geigers Roman entnommen; wenigstens in einem Nachwort. Es brauchte doch nur zwei Zeilen dazu. Selten habe ich ein Nachwort so sehr vermisst, wie in diesem Roman!
Auf der doppelt fiktiven Reise nach Laredo, einmal fiktiv, weil eben fiktiv und ein zweites Mal fiktiv, weil sie nur im Delirium Karls stattfindet, verweilt der abgedankte Herrscher (zu) lange in einer Spelunke und ich ermüde leserisch ein wenig. Es wird ersichtlich, dass Karl V. nach Läuterung strebend dennoch vollkommen dem Trunk und der Spielsucht verfallen ist. Ein gläubiger Mensch, der vollkommen haltlos in seinem Leben gewesen ist. Das passt für mich nicht zusammen. Gläubigsein muss sich auch in der Lebensführung beweisen, ein theoretisches Fürwahrhalten reicht nicht aus und ist Heuchelei. Viel Sympathien erntet Karl V. nicht bei mir, gar keine, um ehrlich zu sein, obwohl der Roman mit dem Ankommen in Laredo ein poetisches und versöhnliches Ende nimmt.
Die Reise nach Laredo ist eine sensible Darstellung des Sterbens. Die Schilderung des Hinübergleitens in den Tod, der Übergang vom Sterben zum Tod, ist dem Autor lyrisch aus der Feder geflossen. Der Roman hat demgemäß etwas leicht Fluides, das ich nicht näher beschreiben kann, man muss es selber lesen. Das ist große Erzählkunst.
Womit ich hadere ist die Figur an der entlang Arno Geiger arbeitet. Ist ihm die Historie wichtig, möchte ich mehr Informationen und Daten, kommt es aber hauptsächlich auf den Vorgang des Sterbens an – warum dann ausgerechnet Karl V.? Aha, beides, sagst du Arno? Nun, wie gesagt, dann bleiben auf der Strecke alle diejenigen Basis-Informationen, die man entweder wegs vortrefflicher Bildung sowieso sein eigen nennt oder die man nachlesen muss. Die paar Andeutungen, die du machst, reichen mir nicht. 

Fazit: Obwohl ich ein wenig meckere und mich „im Wirtshaus“ langweilte, goutiere ich das Wagnis des Autors mit seiner speziellen Herangehensweise mittels einer historischen Figur doch über nichts anders als über das Sterben zu schreiben. Arno Geigers Romane sind – so oder so -  immer etwas Besonderes. Auch dieser. 

Kategorie: anspruchsvolle Literatur
Verlag. Hanser 2024