Rezension

Enormer experimenteller Lesespaß

Die Anomalie -

Die Anomalie
von Hervé Le Tellier

Bewertet mit 5 Sternen

Im März 2021 gerät eine Boeing 787 des Air-France-Flugs 006 Paris-New York während des Durchquerens einer Cumulonimbus-Wand in einen Sturzflug. Der Pilot Markle kann jedoch wie geplant sicher landen. Drei Monate später im Juni landet dieselbe Maschine mit denselben Passagieren ein zweites Mal. Plötzlich gibt es Menschen zweimal, zweihundert Mal.

Die Anomalie ist im wahrsten Sinn ein phantastischer Roman. Zum einen die sprachliche überragende Qualität, und zum anderen die exquisite Entwicklung der Charaktere und dem Plot, ein raffiniertes Mischwerk aus Spekulation, wissenschaftlich gestützter Antizipation, Zeitsatire, Thriller, literarischem Spaß und mathematisch-philosophischem Experiment. Mit einem Patzen Ironie, was vom Franzosen Tellier, der über die Agitation der Amerikaner in New York schreibt, nicht verwunderlich ist.

Blake, ein Auftragskiller in Paris, einer der Besten, der guten Kaffee schätzt, aber nur der „mit dem engen Zusammenspiel einer exzellenten Bohne, frisch gerösteter, fein gemahlener Nicaragua, einem gefilterten und weichen Wasser und einem Perkolator, einem täglich gereinigten Cimbali .“ Klar Cimbali, aber es muss eine White Eagle Edelstahl mit X3-Technologie sein.
Joanna, eine schwarze amerikanische Staranwältin, die während jenen Atlantikflugs – wenn sie ihn überlebt - beschließt, ihren Geliebten Abraham zu heiraten. „Vor ihrer Hochzeit sollten ihre Keimzellen einander Bekanntschaft gemacht haben und stante pede beschlossen, zu fusionieren.“
Slimboy, ein nigerianische Starsänger. Zu Hélène, „sie tragen ein wunderbares tapaphy … pataphysisches Gewand.“ Glauben die Nigerianer an die ‚Pferdeäpfel-Theorie‘? „Wenn man einem Pferd genug Hafer gibt, wird auch etwas auf der Straße landen, um die Spatzen zu füttern.“ (‚Trickle-down-Theorie‘ oder ‚Horse and Sparrow-Economics‘).

Zwangslandung auf der Militärbasis McGuire, Anwendung von Protokoll 42, es könnte sich doch um Anflug von Außerirdischen handeln (um Reptilien in Menschengestalt). Tellier macht sich ironischerweise die Analogie zu Area 51 zunutze, halten die Amerikaner dort Außerirdische gefangen.
Nun werden die kasernierten Doppelgänger unter Starfandrohung ‚interviewt‘, mit allem was das amerikanische Krisenmanagement zu bieten hat: NSA, CIA, FBI, Norad, das Verteidigungs- und Außenministerium, die U.S. AirForce und das PsyOP (Psychological Operation) zuständig für …Kriegsführung … fremder Zivilbevölkerungen…. Vielleicht stecken in den Doppelgängern doch Reptilienmenschen. Nicht zu vergessen den Präsidenten, „er verharrte mit offenem Mund, weist starke Ähnlichkeit mit einem fetten Barsch unter blonder Perücke auf.“
Eingeladen sind sämtliche geistlichen ‚Würdenträger‘ aller bekannten und unbekannten Religionen und Weltanschauungen. Wo findet man den Hinweis, ‚dass eines Tages aus dem Azur des Himmels ein Flugzeug auftauchen würde, das in jedem Punkt identisch ist mit einem anderen, das drei Monate zuvor gelandet ist?‘
Die menschlichen? Duplikate‚ ‚…haben beide dieselbe Persönlichkeit und dieselben Erinnerungen, sodass der eine wie der andere davon überzeugt ist, das Original zu sein. Ihre beiden Hirne sind auf dieselbe Weise kodiert, sowohl in chemischer und elektrischer Hinsicht als auch hinsichtlich der Atome.‘

Ein besonders vielschichtiges und emotionales Kapitel in dem reich an komplexen Themen ist die Auseinandersetzung der Doppelgänger von Angesicht zu Angesicht. Wiederholt brilliert der außerordentliche Literat Tellier.

Hervé Le Tellier ist Mathematiker und Linguist. Tellier ist aber auch Oulipoet (Ouvroir de littérature potentielle), und damit dem Vergnügen und dem Surrealen verpflichtet. Es bereitete ihm sicher höchstes Vergnügen, diesen Science-Fiction-Roman zu schreiben und dasselbe hofft er von seinen Lesern.

Hervé Le Tellier hat mit diesem brillant geschriebenen Roman, den Goncourt-Preis 2020 erhalten und mit rund einer Million verkauften Exemplaren einer der größten Erfolge seit Jahren in Frankreich erreicht.