Rezension

Apokalypse, na und?

Auf See -

Auf See
von Theresia Enzensberger

Bewertet mit 3 Sternen

Die siebzehnjährige Yada lebt isoliert auf einer künstlichen Insel vor der deutschen Ostseeküste. Die Enklave Vineta wurde von ihrem Vater als letzte Zuflucht vor dem Chaos gegründet, dem die restliche Welt angeblich anheim gefallen ist. Yadas Mutter ist vor langer Zeit gestorben und hat ihr eine labile Psyche vererbt, die mit Medikamenten ständig stabilisiert werden muss. Eines Morgens wacht Yada auf und stellt verschiedene blutige Wunden an ihrem Körper fest, an deren Entstehung sie keine Erinnerung hat. Dass das Narrativ, mit dem Yada aufgewachsen ist, nicht stimmen kann, ist schon auf den ersten 30 Seiten offensichtlich.

Die Situation an Land erleben wir in einem zweiten Erzählstrang. Helena - Performance-Künstlerin, Aktivistin und Orakel wider Willen, hat zu Studienzwecken eine Sekte gegründet, die gerade aus dem Ruder läuft. Sie lebt in einem anarchischen Berlin, in dem die Schere zwischen Arm und Reich noch weiter auseinandergeht als zu unserer Zeit. Extrem Reiche stehen Menschen gegenüber, die in ihrem Auto leben müssen. Dennoch funktioniert die Gesellschaft irgendwie.  

Helena führt ein Archiv, das so etwas wie den dritten Erzählstrang des Romans darstellt. Darin sammelt sie Storys von missglückten Utopien und Betrügern, die mittels Lüge und Falschinformation die Träume und Ängste der Menschen ausnutzen. Darunter ein paar faszinierende Fälle, historisch belegt und dennoch unglaublich.  

Die Story mutiert ziemlich schnell vom dystopischen Gaslighting-Thriller zu … ja was? Einem Coming-of-Age-Roman? Enzensberger verweigert ihrer Dystopie den typischen katastrophischen Topos. Alles, was zunächst dramatisch wirkt, relativiert sich bald. Wie die drei Stränge zusammenhängen, kann man sich recht schnell denken. Das dramatischste Ereignis des Anfangs erfährt weder Erklärung noch Auflösung, was mich ziemlich geärgert hat – wenn Tschechows Gewehr schon nicht abgefeuert wird, möchte ich zumindest dabei sein, wenn die Patronen rausgenommen werden. Nichts eskaliert, es gibt keine Schrecknisse, keine Katharsis, die Handlung mündet in ein vages Happy End. Die Apokalypse hat stattgefunden – na und? Alles halb so wild.

Vielleicht ist es das, was der Roman vermitteln soll – ganz pragmatisch und ohne jede Ideologie: „Hier geht überhaupt nichts unter. Seit Jahrhunderten fantasieren irgendwelche Spinner über den Weltuntergang, aber wir sind alle noch hier, und das bleibt auch so“, lässt die Autorin Helena sagen, im post-apokalyptischen Setting einer Zeltstadt im Berliner Tiergarten, in der obdachlose Menschen zusammenleben wie in einer Kleingartenanlage. Hommage an die Resilienz oder naiver Optimismus? Oder schlicht die einzig mögliche Haltung für eine Millennial wie Enzensberger, mit der Welt, wie sie ist, klarzukommen - ohne vom Hochhaus zu springen oder Amok in der Seniorenresidenz zu laufen?

Ich fand „Auf See“ gut zu lesen, sprachlich souverän, unterhaltsam und durchaus originell, aber insgesamt seltsam unbefriedigend. Dennoch beschäftigt mich der Roman. Ich schwanke zwischen Warnung und Empfehlung.