Rezension

Fesselnde dystopische Zeitreise

Auf See -

Auf See
von Theresia Enzensberger

Bewertet mit 4 Sternen

MEINE MEINUNG
Mit ihrem Buch „Auf See“ hat die junge deutsche Autorin Theresia Enzensberger einen beeindruckenden, fesselnden und anspruchsvollen Roman vorgelegt, der ein origineller Genre-Mix aus spannender Zukunftsvision, beklemmender Dystopie und einer Coming-of-age-Geschichte der jungen Protagonistin Yada darstellt.
Sehr anschaulich führt uns die Autorin unterschiedliche faszinierende Zukunfts- und Lebenskonzepte vor Augen und zeigt eindrücklich die Notwendigkeit auf, jegliche Machtverhältnisse in Frage zu stellen und hilfreiche resiliente Strategien zu entwickeln, um mit seinen Zukunftsängsten angesichts post-apokalyptischer Zustände umzugehen. Die fesselnde und vielschichtig angelegte Geschichte regt zu einer Auseinandersetzung mit interessanten gesellschaftspolitischen Fragestellungen und tiefgründigen Zukunftsthemen an - Themen also, die jeden von uns betreffen (sollten).
Angesiedelt ist Enzensbergers Ausgangsszenario in einer nicht allzu fernen, aber nicht näher verortbaren Zukunft zu einer Zeit geprägt durch die Folgen des Klimawandels und gesellschaftliche Unruhen. Schon der Einstieg in die beklemmende, prägnant erzählte Handlung hat mich auf Anhieb mit ihren deutlichen Bezügen zur Gegenwart gefesselt. Die Autorin stellt zwei unterschiedliche Erzählperspektiven gegeneinander, die offensichtlich auf bislang noch unbekannte Weise zusammenhängen, und gibt uns zugleich faszinierende Einblicke in zwei sehr verschiedene Handlungsorte. Zum einen erleben wir die interessante, etwas unwirkliche Welt der 17-jährigen Yada, die isoliert vom Rest der vermeintlich im Chaos versunkenen Welt auf einer kleinen künstlichen Insel, der schwimmenden Seestatt mitten in der Ostsee lebt – zusammen mit ihrem unnahbaren Vater Nicholas Verney, der Gründer und Leiter dieses visionären Zukunftsprojekts ist und so einiges vor ihr zu verbergen scheint. Man spürt deutlich zwischen den Zeilen, dass hier so einiges im Argen liegt und vertuscht werden soll. Zum anderen lernen wir in einem zweiten Erzählstrang die faszinierende Figur von Helena kennen, eine Künstlerin, Aktivistin und unfreiwillige Gründerin einer libertären Sekte und erleben aus ihrer Sicht ihren bewegten Alltag in einer etwas anarchistischen, aber eigentlich immer noch „normalen“ Welt, in der die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergedriftet ist.
Obwohl schon bald klar wird, welche Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Handlungssträngen und den jeweiligen Figuren bestehen, ergeben sich manche Hintergründe und Bezüge zur Handlung aufgrund der cleveren, komplexen Konzeption auch erst im Nachhinein. Eingeschoben in die sich abwechselnden Erzählstränge der Haupthandlung sind die mit Archiv betitelten Kapitel, in denen historisch verbürgte Fakten über fantastische Utopien und ihr Scheitern in der Vergangenheit vorgestellt werden. In diesen fundiert recherchierten Abhandlungen erfahren wir neben lehrreichen Hintergründen zum modernen Neoliberalismus und zur Gründung eigener Nationen allerlei Faszinierendes wie Unglaubliches wie beispielsweise über den legendären Betrüger Gregor MagGregor, die Insel Ascension oder die Geschichte der Piratenkommune Libertatia.
An der Seite der beiden in ihren Lebenskonzepten so unterschiedlichen Hauptfiguren Yada und Helena nimmt uns die Autorin mit auf eine interessante Zeitreise, in der es zunächst viele Ungereimtheiten, überraschende Wendungen aber auch spannende Ansätze zu neuen Lebensgemeinschaften im Angesicht des allgegenwärtigen Untergangs zu ergründen gibt.
Dank des lebendigen Erzählstils wird man zwar rasch in die Geschichte hineingezogen und doch fiel es mir nicht leicht, mich auf die vielschichtigen Charaktere und ihre Gedanken- und Gefühlswelt einzulassen, da insbesondere Helena auf mich sehr unnahbar und distanziert wirkte. Beim Lesen ist zudem große Aufmerksamkeit vonnöten, um durch die eingeschobenen, detailreichen Archiv-Kapitel im Lesefluss zu bleiben und die verschiedenen Ebenen dieser genialen Geschichte zu erfassen. Zum Ende hin fügen sich schließlich die vielen verschiedenen Mosaikteilchen sehr stimmig zusammen zu einem faszinierenden Gesamtbild. Gekonnt lässt die Autorin ihren Roman mit einem hoffnungsvollen, versöhnlichen Ausklang enden, der einen sehr nachdenklich zurücklässt.
FAZIT
Ein fesselnder und anspruchsvoller Roman, der uns in eine nicht allzu ferne Zukunft blicken lässt. Eine nicht einfache aber interessante und zum Nachdenken anregende Lektüre!