Rezension

Eine hochqualitative, intelligente Unterhaltung mit Stil und Gefühl

Der nie abgeschickte Liebesbrief an Harold Fry - Rachel Joyce

Der nie abgeschickte Liebesbrief an Harold Fry
von Rachel Joyce

Ein toller, gekonnt geschriebener, absolut lesenswerter Roman, in dem trauriger Wahrheit eine humorvolle wie weise Seite abgewonnen wurde.

Ich muss gestehen, ich habe das erste Band nicht gelesen, weil mich das Thema doch eher abgeschreckt hat. Etwas mit einer unheilbar kranken Frau war nicht meine Priorität. Nun durfte ich im Rahmen der Leserunde das zweite Buch lesen und muss sagen – ich bin restlos begeistert.

Die Autorin ist eine hervorragende Beobachterin und die Art, wie sie ihre Erkenntnisse in Worte fasst und daraus den Teppich ihres Romans spinnt, ist schlichtweg erstaunlich. Mit ganz wenigen, einfachen Worten erreicht sie enorm viel. Der feine englische Humor glänzt mal hier mal dort auf, oft an den Stellen, wo es eigentlich nicht viel zu lachen gibt, aber die Autorin bringt es so gekonnt ins Spiel, dass man mit einem lachenden und mit einem weinenden Auge ihr Werk liest.

Der Anfang ist sehr gut gelungen. Er schickt voraus, was dem Leser im Laufe der Reise widerfahren wird. Queenie ist mit Harold unterwegs, so auch am Anfang sitzen sie im Auto und er sagt zu ihr Dinge wie: »Vor langer Zeit hast du einmal zu mir gesagt, Harold: »Es gibt so viel, was wir nicht sehen.« »Was zum Beispiel?«, fragte ich. Mein Herz stolperte. »Dinge, die wir direkt vor uns haben.«, sagtest du.« S. 15

Die Zusammenkunft der beiden kann man als eine Allegorie sehen. Sie haben zu zweit im Auto einen bestimmten Abschnitt des Lebens verbracht. In dem Sinne waren sie ein Paar, und darüber sinniert Queenie am Abend ihres Lebens nach, ihre Gedanken hält sie in ihrem Brief fest.

Diese Art der Vergangenheitsbewältigung ist sehr gut umgesetzt. So lernt man die Frau kennen, die Harold Fry so selbstlos geliebt hat. Diese bedingungslose Liebe ohne jeden Anspruch kommt einem vielleicht etwas funny vor, aber gut, so etwas soll es auch geben, selbst wenn auch nur auf den Seiten dieses Romans. Liebe ist auf jeden Fall eine solide Motivation, um allerlei Dinge zu tun oder zu lassen, und zweifelsohne eins der großen Themen dieses Romans. Erzählt wird auf zwei Zeitebenen: In der Gegenwart, was die Queenie und ihre Mitbewohner von heute im Hospitz machen und in der Vergangenheit, wie damals alles anfing, sich entwickelte und zu Ende ging.

Rachel Joyce ist wie eine Profi-Zeichnerin: mit wenigen Strichen erschafft sie ein aussagekräftiges Bild, in dem eine Frau einen Mann liebt. Sie erzählt recht unaufgeregt und leise, die Wirkung ihrer Worte ist aber gewaltig.  Unter anderem geht es um die Liebe, in vielen ihren Ausprägungen. Es ist, als ob man einen Diamanten vors Licht stellt und anfängt ihn langsam zu drehen. Da kommen einige Facetten zum Vorschein. „Die Reise war damit beendet, aber ich musste entdecken, dass eine Liebe nicht so leicht zu beenden ist. Sie hört nicht auf, nur weil man wegrennt. Sie hört nicht mal auf, wenn man beschließt, noch einmal neu anzufangen. …Es gibt kein Entrinnen vor der Tatsache, dass die Liebe immer noch putzmunter und lebendig ist und du etwas mit ihr anfangen musst.“ S. 239

Als Kontrast dazu kommt das Thema der Einsamkeit und des Glücks, das in diesem Buch eine gar nicht mal so kleine Rolle spielt. „Manche Menschen bewerten ihr Glück nach dem Preis, den sie dafür bezahlen müssen. Je mehr man ausgeben muss, desto mehr Glück erwartet einen.“ S. 158-159

Eines der Themen des Romans ist die Selbstwerdung. „Warum brauchst du andere Leute, die dir sagen, was du bist?“ S. 242, sagt Queenie David, Harolds Sohn. Der junge Mann ist die schillerndste, obgleich nicht die wohlerzogenste Person in diesem Roman und gerade er, so voller Zuversicht an Anfang, versagt das zu tun, was für die anderen die normalste Sache der Welt ist: zu leben. Er tritt gegen die Gewöhnlichkeit an, wie in der alten Geschichte David gegen Goliath. Sein Charakter ist sehr gut ausgebaut: Gleich zu Anfang wurde er dem Leser präsentiert als jemand, der seine Einzigartigkeit ausleben wollte. Aber die Aufgabe war ihm wohl zu groß, er wusste nicht, wie er seine kreative Ader kanalisieren sollte, er hat seinen Weg, seinen Platz im Leben nicht gefunden.

Dass er nach dem Gespräch mit Queenie seine Entscheidung trifft, ist kein Zufall, denn er hat seine letzte Verbündete, die er mal selbst auserwählt hatte, verloren. Sie war eine Art geistige Mutter für ihn. Aber nun wollte sie ihm keinen Zufluchtsort mehr bieten. Er legte es wohl so aus, dass sie sich dem Gewöhnlichen mehr zugewandt hatte, was seiner Lebensmaxime widersprach. Er hat eingesehen, dass er auf der ganzen Linie verloren hat. Der junge Mann stirbt aus eigenem Antrieb. Er hat seinen ungleichen Kampf gegen den Goliath aufgegeben.

Queenie hat sich im gewissen Sinn auch selbst hingerichtet. Sie hat sich dafür gegeißelt, dass sie Davids Erwartungen nicht erfüllt hat und ihm nicht helfen konnte. Sie glaubte wohl auch den Teil ihres Selbst verraten zu haben, der ihre künstlerische Seite darstellte, also diesem Teil ihres Selbst wurde sie ihrer Meinung nach nicht gerecht. Ihr Garten am Meer, den sie so liebevoll später aufbaute, konnte diese Wunde zu heilen, er hat ihr Ende etwas hinausgezögert.

Die Nebenfiguren sind ebenso gekonnt gezeichnet und schlichtweg köstlich. Die Hospitz Bewohner wie die quirlige Finty, oder die Barbara, bei der das Auge stets herausfiel, der Perlenkönig oder die Schwerstern, die im Hospitz arbeiten, usw., alle haben ihre besonderen Verhaltensweisen und spannende Geschichten, die einen oft zutiefst berühren.

Bis zur letzten Seite bleibt die Spannung bei vielerlei Fragen, zunächst, ob Queenies Brief den Harold auch erreicht. Der Harold selbst erreicht Queenie. Dass sie sich noch Gedanken macht, ob sie hübsch genug ist, obwohl er sie erst gar nicht sieht, dann aber überwindet sie es. Rührend, wie das Händehalten von den beiden. „Wortlos hast du die Hand ausgestreckt und die meine genommen. Und ich würde tatsächlich sagen, ich stand wie unter Strom, allerdings war es keine körperliche Anziehung mehr, sondern etwas viel tieferes. Ich schloss meinen Finger um die dienen.“ S. 387 An der Stelle glaube ich, dass auch der Harold eingesehen hat, dass er sein Leben vertan hat, dass er es zumindest nicht mit der Frau verbracht hat, mit der er es hätte tun sollen.

Im vorletzten Kapitel kommt doch noch eine Überraschung und ein schönes Zitat: „Die Leute glauben, dass man hinausmuss, um eine Reise zu machen. Aber das stimmt nicht, wie Sie sehen. Man kann auch im Bett liegen und eine Reise machen.“ S. 391 In diesem Buch hat Queenie die Reise gemacht. Sie ist durch ihre Briefe zu ihrem inneren Frieden gereist, durch das Erzählen ihrer Geschichte hat sie mit ihrer Vergangenheit abgeschlossen. Schwester Inconnue wusste, dass es notwendig war, deshalb hatte sie das Schreiben auch vorgeschlagen.

Die wirklich letzte Überraschung der Geschichte, die die Schwester Inconnue steckt im letzten Kapitel, das verrate ich an der Stelle nicht, dafür gibt es aber ein schönes Zitat: „Wenn wir uns entsprechend bemühen, finden wir immer eine rationale Erklärung für Dinge, die wir nicht verstehen. Aber vielleicht ist es gelegentlich weise, einfach hinzunehmen, was wir nicht verstehen, und es damit gut sein zu lassen. Erklären heißt manchmal schmälern. Und was spielt es für eine Rolle, ob ich etwas anderes glaube als Sie? Wir teilen alle dasselbe Ende.“ S. 396

Und: „Vermutlich werden sich unsere Wege nicht mehr kreuzen, aber es war mir eine Freude, Sie kennenzulernen, Mr. Fry.“ S. 395

Ja, mir war es auch eine Freude, eine ganz besondere, ganz ehrlich, Queenie Hennessy, Harod Fry und alle anderen Figuren des Romans kennenzulernen. Ein weises Buch, das wunderbar, mit Sinn und Verstand,  mit einer guten Prise Humor geschrieben worden ist. Man sollte es einfach lesen. Eine hochqualitative, intelligente Unterhaltung mit Stil und Gefühl.