Rezension

Eine Supernase in der Gilmore-Girls-Kleinstadt

Das eiserne Herz des Charlie Berg - Sebastian Stuertz

Das eiserne Herz des Charlie Berg
von Sebastian Stuertz

Bewertet mit 4 Sternen

Das eiserne Herz des Charlie Berg, oder wie eine Supernase aus kaputter Familie auf ein Rasseweib mit lockerem Schlüppergummi trifft und das Herz eines Wortkünstlers klaut. Naja, nicht ganz so plakativ, aber doch schon ganz schön nah dran, nur viel unterhaltsamer!

Charlie Berg ist auf dem Weg, erwachsen zu werden. Mit einem Gewehr kann er schon umgehen, seine Eltern sind ständig anderweitig beschäftigt und so nimmt ihn sein Opa kurzerhand mit auf die Jagd. Dumm nur, dass es dort zu einem Unfall mit einem Wilderer kommt, sein Opa dabei draufgeht und der totgeglaubte Wilddieb noch ins Auto klettern kann und eine Menge Kohle im Handschuhfach spazieren fährt.
Eigentlich wollte Charlie ja seinen Ersatzdienst auf einem Leuchtturm im Wattenmeer antreten und in Ruhe ein Buch schreiben, jetzt aber muss er erst einmal vortäuschen, nicht im Wald gewesen zu sein. Zuhause wartet noch eine kleine Schwester mit Savantbegabung und ein stets bekiffter Vater im Keller auf ihn. Er hat alles im Wald gefilmt und muss dieses delikate Beweisstück unbedingt außer Landes zu seiner mexikanischen Brieffreundin schicken. Sein ganzes Leben teilt er so mit Mayra, seit er sie als Kind in seinen Sommerferien kennengelernt hat, jetzt aber irgend so einen blöden Machomexikaner heiraten will.

Nun, es kommt alles anders, als man denkt und auf siebenhundert Seiten erfahren wir nicht nur mehr über Charlies bemerkenswerter Familie, sondern auch über den ereignisreichen Sommer mit Mayra im Baumhaus (und darunter), über Charlies außerordentlicher Riechbegabung, einem sprachgewandten Freund und überhaupt allen Beteiligten in seiner näheren Umgebung. Denn die scheinen wie aus der Gilmore-Girls-Kleinstadt geklaut und bilden eine Bilderbuch-Idylle, samt Baumhaus und Hirschgulasch-Abenden. Die Dramazutaten sind eine saufende Mutter und Charlies allzu schwaches Herz. Der Höhepunkt läuft auf ein Talentwettbewerb für Autorendebüttant*innen hinaus. Hier trifft alles zusammen, was im Laufe der Zeit verschmäht, bereut, vernachlässigt und geplant wurde.

Vielleicht kann man dem Roman ein bisschen zuviel Schmuddelzeug, Unwahrscheinlichkeiten und Kriminalität, die sich in Wohlgefallen auflöst, vorwerfen (schließlich ist da auch noch Charlie, der mit dem Tod ziemlich locker umgeht), aber wenn man ihn ein wenig in die reale Phantasitk rückt, nicht alles bierernst nimmt, dann ist dieses Werk ein gelungener Sex-Drugs-'n'-Rock-'n'-Roll-Schmöker für die Junggebliebenen unter uns.

Ich habe das Buch trotz ein paar "verschämt-die-Augen-zuhalte"-Momenten gern gelesen und mich gut unterhalten gefühlt. Imponiert haben mir die Wortfindungen von Charlies Freund, Charlies Supernase und was er alles "herausgerochen " hat und die ganze Belegschaft, die über die ganze Geschichte (bis auf wenige Abgänge) zusammengehalten hat.

Kommentare

wandagreen kommentierte am 02. März 2022 um 21:12

Wunderschöne Rezension für ein Buch, das ich bestenfalls unter Schund einordnen möchte. Ich bereue noch im Nachhinein mehr als einen Punkt verschenkt zu haben.

Emswashed kommentierte am 03. März 2022 um 07:30

Die Grauschatten sind unerträglicher Schund (die auch ich nach wenigen Seiten abbrach), Charlie aber konnte mich über alle Seiten bei der Stange halten. Klar, ist auch dort männlich-pubertärer-Größenwahn zu finden, aber die Spannung und das Ach-früher-gabs-noch-Videokassetten-Gefühl machen es wett.

wandagreen kommentierte am 03. März 2022 um 08:00

Jajaja. Es ist mehr mein Ärger. Bei diesem Werk kann man leider nicht unter drei Punkte gehen, ohne unverschämt zu sein. Da steckt zum Teil auch Können dahinter. Es gab irgendeine Phrase, die ständig wiederkam, waren es Luftschnapper - mehr als üblich? Kann sein.