Rezension

Ergreifend und mit Tiefgang

Die einzige Geschichte - Julian Barnes

Die einzige Geschichte
von Julian Barnes

Bewertet mit 4 Sternen

Wo hast du nur mein Leben lang gesteckt?

„Wenn wir von einer neuen Beziehung hören, neigen wir alle dazu, sie in eine bereits bestehende Kategorie einzuordnen. Wir sehen das, was daran allgemein oder üblich ist; dagegen sehen – fühlen – die Beteiligten nur das, was anders und besonders ist.“

 

Inhalt

 

Paul Roberts erinnert sich an seine erste Liebe, die er im Tennisclub kennengelernt hat. Ihr Name war Susan und sie hatte 30 Jahre mehr Lebenserfahrung als er. Doch ungeachtet der Tatsache, dass sie verheiratet und Mutter zweier erwachsener Töchter ist, beginnen die beiden eine Affäre. Aber mehr noch, es ist nicht der Sex und das schnelle Abenteuer, was sie suchen, sondern die echte, aufrichtige Liebe. Als Susan nach zwei Jahren ihren Mann verlässt, um mit dem jungen Paul in eine eigene Wohnung zu ziehen, könnte man meinen sie haben es geschafft, allen Konventionen zu trotzen und sind nun frei und voller Leben, um sich auf die gemeinsame Partnerschaft zu freuen. Doch während Paul Jura studiert, sitzt Susan zu Hause und neben ihr die Flasche Alkohol, mit der sie sich betäubt …

 

Meinung

 

Paul muss schmerzlich erkennen, das der Feind seiner Liebe nicht die gesellschaftliche Ächtung ist und auch nicht der Bruch mit Freunden und Familie, sondern das die Gefahr im Inneren lauert und mit vernichtender Kraft ihre Wirkung zeigt – erst im Alter söhnt er sich mit all dem aus und erzählt sie hier, diese einmalige Geschichte seines Lebens, an die kein anderes Ereignis jemals herangereicht hat.

Auf dieses Buch aus der Feder des englischen Erfolgsautors Julian Barnes war ich sehr gespannt, zum einen weil ich bereits seinen Roman „Vom Ende einer Geschichte“ gelesen habe und zum anderen, weil mich die hier angedeutete Beziehung mit einem Paar, dessen Manko ein großer Altersunterschied ist, sofort und nachhaltig an meine eigene Geschichte erinnert hat. Zu gern wollte ich erfahren, was die Anforderungen dieser Beziehung über viele Jahre hinweg sind und wie die Protagonisten damit umgehen. Doch schon nach kurzer Zeit wird klar, dass sich der Autor auf ein ganz anderes Problem konzentriert und die Dramatik, die in der Tatsache zweier aufeinanderprallender Generationen liegt, bleibt dabei weitestgehend auf der Strecke. Meinen ursprünglichen Erwartungen entspricht dieses Buch deswegen nicht.

Trotzdem ist es eine aufrüttelnde, philosophische Geschichte über die Liebe, die Außenstehende nur schwer verstehen können und letztlich über das Leben selbst, denn Paul, nun mittlerweile ein reifer Mann erinnert sich an die Anfänge, an die Euphorie ebenso wie an den folgenden Schmerz, die Ohnmacht und die lebenslange Frage nach der Schuld und seinem Anteil daran.

 Literarisch gliedert sich der Text in drei Teile, die sich wesentlich voneinander unterscheiden, indem zwar immer Paul der Erzähler ist, sich aber die Distanz zwischen ihm und seinem Leben mit Susan weiter manifestiert, indem er vom verbindenden „ich“ zum neutralen „du“ und letztlich zum resümierendem „er“ wechselt. Dadurch wird die Reifung des Protagonisten nachhaltig und beeindruckend sichtbar, vor allem für den Leser, der mit dem „jungen Paul“ nur wenig Gemeinsamkeiten hat aber auch für die, die den „alten Paul“ nicht recht verstehen. Es ist eine Aufarbeitung und ein Aussöhnen mit einem gelebten Leben und einer gescheiterten Liebe.

Inhaltlich scheut sich der Autor vor keiner Wahrheit, ganz im Gegenteil. Das Hinterfragende, die Suche nach der Wahrheit, die vielen Rückschläge und das ewige Auf und Ab der Geschichte bilden die Basis dieses Textes. Um daran Gefallen zu finden, muss man sich als Leser zurücknehmen, manches zweimal lesen und versuchen hinter der offenkundigen Entwicklung die tieferen Ursachen zu erkennen. Das macht diesen Roman aber ungemein einprägsam und sorgt dafür, dass man sich tief und nachhaltig mit dem Thema auseinandersetzt, die verschiedenen Möglichkeiten abwägt und seine eigenen Aspekte und Erfahrungen zu Rate zieht. Dieses Einbeziehen des Lesers in den fiktiven Text, macht eindeutig die Kunst eines guten Schriftstellers aus, ohne Wertung ohne Vorwurf und noch nicht einmal um Akzeptanz bittend erzählt Paul aus seinem Leben mit Susan und später ohne sie.

Susan selbst, die tragische Figur an Pauls Seite, wirkt nur durch seine Beschreibungen, mehr aus zweiter Hand als durch tatsächliches in Erscheinung treten. Trotzdem gelingt es ein ausgewogenes, differenziertes Bild auch von ihrer Person wahrzunehmen. Einer Frau, die unter einer jahrelangen, lieblosen, gewalttätigen Ehe gelitten hat und der es erst durch Paul möglich war, noch einmal, wenn auch nur kurz aus ihrer Lethargie zu erwachen. Und so stellt sie ihm die in Erinnerung gebliebene Frage, wo er nur ihr Lebtag lang gesteckt hat und das wiederrum nimmt man ihr ab. Wer sucht ihn nicht, den Partner, der alles zum Strahlen bringt mit seiner bloßen Anwesenheit?

 

Fazit

 

Ich vergebe gute 4 Lesesterne für diesen zeitgenössischen, belletristischen Roman, der jedem Leser die ganz persönliche Frage stellt, ob es besser ist, mehr zu lieben und damit auch mehr zu leiden oder ob es erträglicher scheint weniger zu lieben und damit weniger zu leiden. Melancholisch, stellenweise sehr traurig und letztlich versöhnlich erleben wir hier die Geschichte einer einmaligen Liebe, die ihre Spuren hinterlassen hat. Ich vergebe eine uneingeschränkte Leseempfehlung für alle, die gern hinter die Fassade schauen und sich mit den wichtigen Fragen des Lebens auseinandersetzen möchten. Ein intensives, prägendes Lesevergnügen, mit viel Raum zum Interpretieren. Ein Buch, bei dem man auch nach mehrmaligem Lesen immer noch etwas neues entdecken kann, nur nicht  unbedingt die Antwort auf die Frage, warum ein 19-Jähriger und eine 48-Jährige miteinander ihr Glück versucht haben.