Rezension

Mysteriöses Verschwinden

Das Dorf der toten Seelen - Camilla Sten

Das Dorf der toten Seelen
von Camilla Sten

Bewertet mit 4.5 Sternen

Alice ist eine Absolventin der Filmhochschule in Stockholm. Für ihr Debüt plant sie einen Dokumentarfilm zu drehen – über Silvertjärn, einen abgelegenen Grubenort im Wald von Norrland. Sie stellt ein kleines Team zusammen und macht sich auf den Weg. Auf den Spuren der rund 900 verschwundenen Seelen, die vor 60 Jahren  wie vom Erdboden verschluckt sind, erforschen Alice, Tone, Emmy, Robert und Max das Geheimnis um das Dorf und seine ehemaligen Einwohner. Alice Großmutter Margareta zog einst von dort weg. Einige Anhaltspunkte über die Geschehnisse im Dorf vor dem Verschwinden geben Briefe aus den späten 1950er Jahren von Margaretas jüngerer Schwester Aina. Diese berichtete von einem jungen, attraktiven Pfarrer, der den Job seines Vorgängers – ein Trunkenbold – übernahm und fortan immer mehr Dorfbewohner in seinen Bann zog...

Nachdem vor 60 Jahren die Polizei das Rätsel um das kleine Örtchen nicht lösen konnte – es gab weder Leichen noch andere Anhaltspunkte auf den Aufenthaltsort der 900 Menschen – stellten sich einige grundlegende Fragen: Wer war die gesteinigte Frau, die mitten auf dem Marktplatz an einem Pfahl angebunden von er Polizei gefunden wurde? Und wieso fanden sie außerdem einen Säugling – mutterseelenallein?

Ich habe mich sehr in die Geschichte hineinziehen lassen. In kleinen Häppchen präsentierte die Autorin mit jedem weiteren Kapitel im „Heute“ oder „Damals“ – zum Teil über die Briefe von Aina an Margareta – weitere Details, die den Spannungsaufbau wunderbar vorantrieben.  Es fühlte sich für mich tatsächlich an wie ein Puzzle, das ich mit jedem passenden Teil immer mehr in Augenschein nehmen konnte. Und das ist meiner Meinung nach eine große Stärke von diesem Buch. Dabei geht es nicht ausschließlich um Silvertjörns Geheimnisse, sondern auch um die ehemalige Freundschaft zwischen Alice und Emmy, die aufgrund einer schwierigen Lebensphase auseinanderging. Es geht um die psychisch labile Tone, deren Großmutter das Baby war, das einst gefunden wurden war. Auch im „Damals“ hinterfragt die skeptische Elsa – Ainas und Margaretas Mutter – die Ereignisse, misstraut dem jungen Pfarrer und kümmert sich liebevoll um jene, die plötzlich zu mehr als Außenseitern werden.

Das Figurenkonstruckt scheint mir sehr gelungen. Unterschiedliche Temperamente treffen aufeinander und sorgen für ein hohes Konfliktpotenzial, welches zusätzliche – in der unheilschwangeren Lage – den Spannungsbogen dehnt und mich des Öfteren zum sofortigen Weiterlesen antrieb. Ich würde behaupten, die Autorin hat ein gutes Gespür für die Darstellung zwischenmenschlicher Beziehungen – und das auf einem simplen Weg ohne Ausschweifungen oder großartige Erklärungen.

Trotz aller Spannung habe ich einen Kritikpunkt. Was den charismatischen Pfarrer angeht – der Leser erfährt einige, wenige Details über ihn – ist nicht ganz klar, wie er es schafft, so viele Menschen für sich einzunehmen. Und hier wird es spannend. Für den mysteriösen Horrorcharakter des Thrillers ist das sicher sehr unterstützend. Religiöser Fanatismus oder politischer Extremismus sind mir bekannte Ideologien oder Überzeugungen. Jedoch hätte ich gerne einen weitgehenderen Eindruck von der Vorgehensweise des Pfarrers erhalten.

Für mich ist „Das Dorf der toten Seelen“ von Camilla Sten ein spannender Thriller mit guter Charakterentwicklung. Das Setting der Geschichte und die Intentionen der Handelnden überzeugen mich. In den Wäldern von Schweden, in einer Region, die einst vom Bergbau geprägt war, steht ein verlassenes Dorf – Brrrrrrr, Gänsehaut-Feeling! – überzeuge dich selbst! ;-)