Rezension

Spannend, authentisch, mitreißend

Erzwungene Wege - Annette Oppenlander

Erzwungene Wege
von Annette Oppenlander

Bewertet mit 5 Sternen

Hitlers Kinderlandverschickung - ein mir bisher relativ unbekanntes Thema...

Annette Oppenlander hat sich mit ihrem historischen Roman „Erzwungene Wege“ eines Themas angenommen, dass mir bisher in seinen Ausmaßen nicht bekannt war: die (erweiterte) Kinderlandverschickung (KLV). Lt. Wikipedia griff Hitler selbst ein und löste 1940 die Aktion aus. Die Kinder sollten vor den Bomben geschützt werden, frische Luft genießen und mit gutem und nahrhaftem Essen auf dem Land versorgt werden. Soweit die Ideologie, die Realität sah jedoch ganz anders aus...

Und genau diese Realität beschreibt Frau Oppenlander anhand ihrer Protagonisten, der 14-jährigen Hilda und der mit ihr befreundete etwas ältere Peter. Im Mai 1943 werden die beiden mit ihren jeweiligen Klassen aus Solingen „verschickt“: Hilda in ein Kloster nach Bayern, Peter in eine verlassene Schule in Pommern. Während Peter sich freut, will Hilda nicht fahren – aber Alternativen hatten sie beide nicht, da ihre Schulen geschlossen wurden und die Eltern somit zum Einverständnis „gezwungen“ wurden.

Die Autorin lässt Hilda und Peter ihre jeweilige Situation selbst schildern – und das hat sie auf eine wirklich beeindruckende, faszinierende und empathische Art gemacht, so dass wir Leser*innen immer Hilda und Peter ganz nah sind und uns vor lauter Spannung manchmal der Atem stockt. Wir erleben durch die beiden, was hinter dem (eigentlich) positiven Ansatz steckte: die Kinder sollten fernab der Heimat zu folgsamen Nationalsozialisten geformt werden. Bei den Jungen stand militärischer Drill im Vordergrund: Fahne hissen, Flaggenspruch des Lagerleiters („Einer seiner Lieblingssprüche ist: 'Du bist nichts, unsere Nation ist alles.'“ - S.54), Spindkontrolle, Stubenkontrolle, Marschieren... Die Mädchen sollen auf ihre Rolle als Hausfrau und Mutter vorbereitet, allerdings unter den Augen einer despotischen Klosteroberin, die z.B. meint, Bettnässen könne mit Beten „geheilt“ werden, wie es Hildas Freundin Tilly erfährt: „Sie zwingt mich, stundenlang auf dem Holzboden vor dem Jesuskreuz zu knien. Ich soll die Bibel lesen und ihr dann davon erzählen.“ (S. 64)

Die Briefe nach Hause werden zensiert, ihnen werden die Worte vorgegeben, die sie schreiben dürfen, z.B. „glücklich“, „friedlich“ und „sicher“ sollten in jedem Brief erscheinen. Aber Hilda und Peter treffen auch Menschen, die sie unterstützen – und ich in ihrem Mut zu diesem Zeitpunkt einfach nur bewundern kann!

Aber mehr zum Inhalt sei hier nicht verraten...

Der Schreibstil der Autorin hat mich sofort in seinen Bann gezogen und bis zur letzten Seite nicht mehr losgelassen. Die Autorin schreibt, dass das Buch aus Zeitzeugenberichten von KLV-Teilnehmern entwickelt wurde, ja, man spürt die gründliche Recherche! Ein Epilog aus dem Juli 1948, ein Autorenkommentar und eine Chronik ab Kriegsbeginn (1. September 1939) runden die Geschichte ab.

Ich habe dieses Buch als große Bereicherung empfunden, wieder eine neue Facette des Nationalsozialismus kennengelernt... Ich finde solche „Bücher gegen das Vergessen“ sind enorm wichtig, zumal es demnächst kaum noch Zeitzeugen geben wird. Ich hoffe, dass Romane wie „Erzwungene Wege“ zumindest in Auszügen Zugang in die deutsche Pflichtlektüre an den Schulen finden, denn gerade Romane mit ihren Empfindungen, Sorgen, Ängsten und Nöten können bedeutend mehr ausdrücken als reine Sachbuchinformationen. Aus diesem Grund: eine uneingeschränkte Leseempfehlung von mir!