Rezension

Stark, realistisch & emotionsgeladen ...

Loyalitäten - Delphine de Vigan

Loyalitäten
von Delphine de Vigan

Bewertet mit 5 Sternen

Théo ist ein unauffälliger Schüler, still, selbstständig und schreibt gute Noten und doch hat seine Lehrerin ein komisches Gefühl bei Ihm. Auch die Mutter von seinem besten Freund beäugt die Freundschaft kritisch und misstrauisch. So ganz unbegründet ist der Verdacht auch nicht, denn hinter Théo stehen zwei zerstrittene Eltern, eine schlimme Scheidung und Kontakt untereinander schon lange nicht mehr. Théo muss so zwischen einer unglücklichen Mutter und einen depressiven Vater hin und her pendeln. Keiner will von anderen was wissen und jeder erdrückt ihn mit seiner Last. Das wird Théo zu viel, er ist mit diesen Leben überfordert und sucht dringend einen Ausweg. Diesen findet er in der Wärme von Alkohol und dem Taubheitsgefühl. Wie lang wird das gut gehen? Wem wird Théos zerbrochene Seele auffallen? Und wie weit darf Loyalität zu den Eltern gehen?

Delphine de Vigan hat ein neues Buch und wieder kein leichtes Thema gewählt. Loyalitäten begleiten uns unbewusst den ganzen Tag. Wir entscheiden nach Gefühl und Zuneigung, Verschweigen oder vermitteln, weil wir loyal zu jemanden stehen. Aber wo kommt das her, wann hört das auf und ist man immer gerecht? Das versucht die Autorin mit der Geschichte eines Scheidungskindes einzufangen und nimmt wie immer das Skalpell der genauen Beobachtung in die Hand. Ob mir diese Geschichte gefallen hat, erzähle ich euch nun.

Die Geschichte wird aus mehreren Sichten geschildert. Da haben wir natürlich zuerst Théo, er ist zwölf und hat schon die Last zwei erwachsener zu tragen, nämlich die seiner Eltern. Als Scheidungskind muss er zwischen Vater und Mutter hin und her pendeln und darf keinen vom anderen erzählen. Er versucht es jedem Recht zu machen und wird von ihren Gefühlen erdrückt. Der Vater rutscht in eine Lebenskrise und Depression, Théo darf es aber keinem erzählen, so ist die Zeit bei seinem Vater extrem belastend. Aber sobald er bei der Mutter ist, muss er alles abstreifen und darf nicht zeigen, wie fertig er sich fühlt. Er wandert durch die starken Gefühlswelten seiner Eltern, deren Gefühle er nicht verletzten möchte, und muss dabei ein Minenfeld durchlaufen. So versucht er, seinem Alltag unbemerkt und fast durchsichtig zu überleben. Der einzige Lichtblick ist seine Freundschaft zu Mathis und das Geheimnis des Alkohols.

Da bekommen wir auch schon die zweite Sicht Mathis, der Théo schon lange zur Seite steht und seinem Freund bei seiner Trinkerei besteht. Erst ist es ein Spaß, aber bald fühlt sich Mathis nicht mehr wohl bei der Sache und macht sich Sorgen um seinen Freund. Er weiß das Théo zu Hause Probleme hat, kann sie aber nicht ganz greifen und ist hilflos. Aber auch bei Mathis zu Hause ist nicht alles in Butter und hier haben wir die nächste Stimme. Mathis Mutter Cécile hat mit ihren eigenen Dämonen zu kämpfen und entdeckt ein Geheimnis in ihrer Ehe, was diese komplett in einem anderen Licht erscheinen lässt. Aber obwohl sie damit mehr als ausgelastet ist, ist ihr die Freundschaft von ihrem Sohn Mathis mit Théo ein Dorn im Auge, da sie diesen Jungen merkwürdig findet und er einen schlechten Einfluss auf Mathis hat. So versucht sie immer wieder, Mathis zu überreden auch mit anderen Kindern sich anzufreunden.

Und die letzte Stimme ist Hélène, eine Lehrerin von Théo und die Einzige, die ahnt, dass mit Théo etwas nicht stimmt. Sie beobachtet ihn genau und merkt kleine Veränderungen, kann diese aber nicht so konkretisieren, dass das Schulamt was unternimmt. Aber sie bleibt am Ball und je mehr sie sich hineinsteigert, bringt sie sich selbst und ihren Job in Gefahr. Dabei kann sie sich vorstellen, was mit Théo nicht stimmt, da sie selbst ein Opfer von Missbrauch in der Kindheit war.

So wechselt die Geschichte ständig die Perspektive und wirft ein ganzes Spektrum an Loyalitätsfragen auf. Zum einen die Loyalität zu den Eltern, zur Freundschaft, zu seinem Partner und natürlich zur Schule. Alle befinden sich in irgendeiner Zwickmühle, keiner möchte so gern aus der Komfortzone raus und keiner wirklich was hinterfragen. Jeder ist mit der eigenen Last erdrückt und versucht sich ohne große Explosionen durch die Probleme zu schiffen. So wird ein Kind dazu genötigt für jeden Elternteil eine Rolle zu spielen und die Wahrheit für sich zu behalten, weil sie selbst zu feige sind. Man will es ja Mama und Papa recht machen, ein guter Sohn sein und geliebt werden. So sind wir erzogen, wir wollen geliebt werden und sind allein schon deshalb loyal. Delphine de Vigan ist selbst ein Scheidungskind und kann aus ganz persönlichen Gründen hier ein wirklich genaues Bild geben. Das beschreibt sie auch wieder ganz kurz und mit treffenden Worten, dass es direkt ins Herz trifft und man sich selbst in einigen Situationen wieder findet. Dieses kleine Buch hat eine unglaubliche Wucht in sich, man spürt die Ohnmacht, die Hilflosigkeit und die Wut und weiß, genau so ist sie, unsere Welt, in der wir nicht mehr richtig hingucken.

Loyalitäten ist ein starkes Buch, was mit Gesellschaftskritik, Offenheit und Weisheit ans Werk geht und ein ganz genaues erschreckendes Bild wiedergibt. Dabei packt es einem und berührt emotional sehr. Diese Autorin hat es wirklich drauf seine Leser Themen zu erklären und diese kritisch nachdenklich zurück zulassen. Dickes Kompliment dafür.