Rezension

Wirkt nach

Immer wieder das Meer - Natasa Dragnic

Immer wieder das Meer
von Natasa Dragnic

Bewertet mit 4 Sternen

Es wird behauptet, er sei schwerhörig. Kann sein. Er aber hat sie gehört, hat ihre schwindende Stimme gehört und ist zu ihre geeilt. Er hat sich auf das Bett gesetzt, seine Hand auf ihre gelegt, und einen Augenblick lang ist er glücklich gewesen. Fast euphorisch.

Normalerweise beginne ich eine Rezension immer mit einer klassischen Inhaltsangabe, um den Lesern so, einen Überblick über die Handlung zu ermöglichen. Doch bei diesem Buch fiel mir eine solche Vorgehensweise sehr schwer. Egal wie ich den Anfang gestaltete, ich hatte immer den Eindruck dem Werk nicht gerecht zu werden. Und muss ich mich denn immer an diese "Konventionen" halten? Nein, heute werde ich ganz anders vorgehen. Vielleicht kommt im Endeffekt ein etwas wirrer Text heraus. Oder ich schaffe es  meine Gefühle, die ich beim Lesen hatte, einmal in einer besseren Form zu transportieren.

Das Buch beginnt mit einem kurzen Kommentar darüber, dass die Ich-Erzählerin den Dichter Alessandro Lang heiraten wird. Der aufgeregte Leser neigt natürlich dazu, sich über das vorgeschobene Happy End in gewisser Weise zu freuen. Dazu trägt bei, dass in dem kommenden Kapitel eine Frau vorgestellt wird, die just in dem Moment Alessandro Lang trifft. Wir haben es also hier mit einer Liebesgeschichte zu tun, deren Ende wir kennen, aber der Weg dorthin scheint spannend zu sein. Anders kann man sich die über 300 Seiten jedenfalls nicht erklären. Zumindest konnte ich mir dies nicht anders erklären, weil ich die Klappentexte und Presseinformationen der Bücher, die ich später rezensieren will, nur sehr selten vor dem Schreiben der Rezension lese. Also stellte ich mich auf eine längere Liebesgeschichte ein. Das nächste Kapitel zerstörte meine Vorstellungen und überraschte mich positiv. Ein gemeinsamer Spaziergang, der von einem kranken Mann und seiner Tochter begangen wird, steht im Mittelpunkt. Kaum war dieser erledigt, springt die Geschichte und es tauchen schon bekannte Figuren in einem neuen Zusammenhang auf, wir befinden uns in einer anderen Zeit. Dann folgen wieder die Hochzeitsbeschreibungen.

Ich war verwirrt. Namen, Zeiten, Orten schwirrten durcheinander und ich merkte, dass viel mehr in dem Werk steckt als eine simple Liebesgeschichte. Langsam tauchte ich in die Welt der deutsch-italienischen Familie Alessi ein und passte mich dem jeweiligen Lebenstempo an. Mal rasten wir durch die Zeit und mal bewegten wir uns mit leichten Wellen des Meeres. Aber immer schwang der Duft des toskanischen Sommers mit. Die drei Zeitebenen ließen sich nach und nach klarer erkennen und die gesamte Familiengeschichte mit der ganzen Freude, aber auch dem Leid und dem Schmerz, der durch Trennung und Tod verursacht wird, lag immer offener vor mir. So weit sich die einzelnen Familienmitglieder auch voneinander entfernten, verbunden waren sie immer über Alessandro. Denn nicht nur Roberta lernte ihn kennen. Nein, auch ihre Schwestern Lucia und Nannina kommen ihm näher. Und je weiter diese Beziehungen erläutert wurden, desto deutlicher wurde für mich, dass der Name der Braut ja völlig unklar blieb und es sich um jede der drei Schwestern handeln könnte. Der so erhellende Einstieg wird somit für den Leser ins Gegenteil verkehrt und sorgt dafür, dass man schier innerlich zerreißt und dazu neigt, sich das Ende zu Gemüte zu führen. Ich gebe zu, dass ich es wirklich nicht ausgehalten habe. Nataša Dragnić schaffte es mit ihrer klaren Sprache, den eindringlichen Beschreibungen und einem unnachahmlichen Stil solch eine innere Unruhe in mir zu erzeugen, dass ich nicht anders konnte. Die Figuren kamen mir so nahe, sie haben mich wütend gemacht, sie haben mich weinen lassen und mich verstoßen. Und in diesem Moment wollte ich mich rächen. Ich wollte nicht länger mit dieser Unwissenheit leben. Ich habe mich meiner Macht als Leser bedient und die letzten Seiten aufgeschlagen. Ich habe sie gelesen und mich ehrlich gesagt noch mehr über die Figuren aufgeregt. Nun musste ich aber natürlich auch wissen, wie es zu diesem Ende kommen konnte. Mir blieb also nichts anderes übrig. Ich musste weiterlesen. Glücklicherweise haben mir die Protagonisten verziehen und mich sofort wieder in ihren Kreis aufgenommen.

Da ich das Ende nun kannte, war ich weniger verkrampft beim Lesen und konnte mich auf die anderen Erzählstränge stärker einlassen. In diesen geht es, trotz der Verbindung zu Alessandro, um die Entwicklung der Mädchen und um die Geschichte ihrer Familie. Zentral ist dabei die fortschreitende Erkrankung der Mutter, die alle sehr stark belastet. Egal ob es sich um Phasen der Krankheit oder die Liebesgeschichten der Mädchen dreht, die Autorin findet immer sehr berührende Worte, die nicht in Floskeln oder überkommenen Lebensweisheiten münden. Sie lässt das Leben selbst sprechen, lässt alle Gefühle zu und benutzt Wörter, die in den jeweiligen Augenblicken jedem in den Sinn kommen würden. Dadurch wirken die handelnden Personen authentisch und man kann sich schnell in sie hineinversetzen. Zudem führen die klare Sprache und die angemessene Satzlänge zu einem angenehmen Lesetempo. Die Tiefe des Buches wird einem zwar mit dem Fortschreiten der Handlung immer bewusster, aber wirklich erkannt habe ich sie erst einige Zeit später. Die ganzen Gefühle, die durch das Buch ausgelöst wurden, mussten sich erst wieder legen. Und wenn ich jetzt an das Gelesene zurückdenke, stelle ich fest, dass mich die Geschichte ganz schön traurig gemacht hat. Sie hat mir aber auch vor Augen gehalten, dass es wichtig ist für das eigene Glück zu kämpfen, selbst wenn man damit auch einmal jemanden verletzten muss. Das bleibt nicht aus. Und außerdem ist unsere Zeit endlich. Also sollten wir ehrlich miteinander umgehen und füreinander da sein. Wir sollten denjenigen, die wir lieben, das selbige auch sagen und ihnen zeigen welche wichtige Rolle sie in unserem Leben spielen.

Fazit: Ein sehr berührendes Buch, das auch unterhaltsam ist und eine nachhaltige Kraft entwickelt.