Rezension

Eine amerikanische Karriere

Die Königin der Orchard Street - Susan Jane Gilman

Die Königin der Orchard Street
von Susan Jane Gilman

Wer im Zuge eines New York-Aufenthaltes die Möglichkeit hatte, das „Tenement Museum“ zu besuchen, bekommt eindringlich die Lebensbedingungen der Einwanderer zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor Augen geführt. Es befindet sich in der Orchard Street, dem Zentrum der Lower East Side, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts der Anlaufpunkt für Immigranten aus aller Herren Länder war. So auch für unzählige jüdische Familien, die dem entbehrungsreichen Leben in Russland entfliehen, um in Amerika ihr Glück zu machen und ein Auskommen für sich und ihre Familie zu erwirtschaften.

 Die Amerikanerin Susan Jane Gilman, Sachbuchautorin und Journalistin, beschreibt in ihrem ersten Roman „Die Königin der Orchard Street“ die Geschichte eines Mädchens, für das der amerikanische Traum Wirklichkeit wurde.

 Malka Treynovsky durchläuft im Jahr 1913 als Sechsjährige mit ihrer Familie die Prozeduren auf Ellis Island, die jeder Einwanderer erdulden muss. Ihre Familie findet Unterschlupf in der Orchard Street und hofft auf die Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse. Aber noch ist von den gebratenen Tauben, die einem in Amerika in den Mund fliegen, weit und breit nichts zu sehen. Stattdessen bestimmt nagender Hunger und Verzweiflung den Alltag. Die Mutter ist kaltherzig, der Vater macht sich eines Tages aus dem Staub, und Malka lebt quasi auf der Straße, wo sie sich mehr schlecht als recht durchschlägt. Bis zu dem Tag, als ihr das Pferd des italienischen Eismanns Mr Dinello bei einem Unfall Hüfte und Bein zertrümmert…

Was auf den ersten Blick eine Katastrophe scheint, entpuppt sich für Malka als großes Glück, denn das schlechte Gewissen des Unfallverursachers führt dazu, dass er sie quasi adoptiert und als Familienmitglied aufnimmt. Ihre Lebensumstände verändern sich kaum, auch in dieser Familie ist die Armut allgegenwärtig. Aber sie hält die Augen offen und lernt. Lernt, wie man Eiscreme herstellt, womit der Grundstein für ihr späteres Imperium gelegt ist.

 Als alte Frau muss Malka, die mittlerweile ihren Namen in Lilian Dunkel geändert hat und als Amerikas Eiscreme-Königin bekannt ist, sich vor Gericht wegen Steuerhinterziehung verantworten. Und sie blickt zurück auf ihr Leben, reflektiert, wie und warum sie an diesen Punkt gekommen ist, an dem sie sich jetzt befindet…

Es ist ein Schicksal, wie es wahrscheinlich Tausende in Amerika gibt, an dem uns die Autorin mit ihrem Roman teilhaben lässt. Wenn man sich das entbehrungsreiche Leben der Protagonistin anschaut kann man gut verstehen, warum sie so wurde, wie sie jetzt ist. Sie ist nicht sympathisch, das ganz gewiss nicht, aber sie hat es aus eigener Kraft nach oben geschafft. Und dafür gebührt ihr Hochachtung.

 Wer sich für die Geschichte der Einwanderer in den USA interessiert, sollte diesen Roman lesen. Und falls er einmal nach New York kommt, das „Tenement Museum“ in der Lower East Side besuchen.