Rezension

Sozialer Aufstieg im Land der tausend Möglichkeiten

Die Königin der Orchard Street - Susan Jane Gilman

Die Königin der Orchard Street
von Susan Jane Gilman

Bewertet mit 5 Sternen

In Romanen gibt es ihn auf jeden Fall, den berühmt-berüchtigten Aufstieg vom Tellerwäscher zum Millionär. In der vorliegenden fiktiven Geschichte erlebt ihn ähnlich Lillian Dunkle, geb. Malka Treynovsky, später Bialystoker, dann Dinello. Im Jahre 1913 flüchtet sie als Fünfjährige mit Eltern und Schwestern vor den Pogromen in Russland nach Amerika. Im New Yorker Einwandererviertel auf der Lower East Side lebt sie in erbärmlichen Verhältnissen, durch Mitarbeit zum Familienunterhalt beitragend. Der Vater verlässt die Familie, sie selbst wird durch den Zusammenstoß mit dem Pferdefuhrwerk des italienischen Eishändlers Dinello zeitlebens zum Krüppel und deshalb von der Mutter verstoßen. Doch Malka hat Glück im Unglück. Die Dinellos werden ihre Ziehfamilie. Von ihnen lernt Malka das Eishandwerk von der Pike auf. Mit ihrer großen Liebe Bert, einem Adonis und Analphabeten aus Wien, baut sie ein eigenes Eiscreme-Imperium auf und wird zu einer klugen Unternehmerin, von Präsident Eisenhower verbal zur „Eiskönigin Amerikas“ gekrönt. Im Alter sieht sie ihr Lebenswerk durch zwei gegen sie laufende Gerichtsverfahren bedroht …

 

 

Als Ich-Erzählerin gibt Lillian ihre Lebensgeschichte bis in die 80er Jahre wieder, nicht immer chronologisch. Das geschieht in einer sehr flotten, lebhaften, manchmal frechen Art, die eine typische Eigenschaft von Lillian ist. Schon ihre Mutter schalt sie immer wegen ihres „großen Mundwerks, das ihr noch Unglück bringen“ werde. Ihre Herkunft als jüdische Russin betonend, lässt Lillian immer wieder jiddische, frech klingende Vokabeln einfließen (z.B. shmendrik = Trottel, meshuggeneh = bekloppt, mamzer = Tunichtgut). Von ihnen wird ein kleiner Teil auf einem in das Buch eingelegten Lesezeichen übersetzt. Schön wäre ein vorn- oder hintenangestelltes zusätzliches Glossar gewesen. Den Leser spricht Lillian immer wieder direkt an („meine Schätzchen“, „Verklagt mich doch“), was sie volkstümlich und sympathisch erscheinen lässt. Dennoch wird allzu bald deutlich, dass sie durchaus verwerfliche Seiten hat (fehlende Mutterliebe gegenüber ihrem Sohn, Intrigen gegenüber Konkurrenten, kleinere Diebstähle). Auf jeden Fall ist Lillian eine faszinierende Romanfigur, die als Frau, zudem noch mit Handicap, ihren Weg in einer von Männern beherrschten Geschäftswelt macht. Gut recherchiert und den historisch interessierten Leser ansprechend, wird das Leben der Einwanderer in Amerika zu Beginn des 20. Jahrhunderts dargestellt. Zugleich ist der Roman ein gelungenes Lehrstück rund um Eiscreme. Wer hat denn vorher schon gewusst, dass das amerikanische Militär während des Zweiten Weltkriegs der größte Eishersteller war oder Eiscreme in Amerika eine Zeit lang als Ursache für Polio-Erkrankungen galt? Ein geschickter Schachzug treibt zum Lesen an: Frühzeitig und immer wieder werden Andeutungen zu zwei Gerichtsprozessen gemacht, denen sich Lillian im Alter ausgesetzt sieht. Worum es konkret geht, wird erst ziemlich am Ende aufgedeckt.

 

Ein wirklich gelungener Debütroman, den ich nur empfehlen kann. Interessante Informationen zum Roman gibt ein Video mit der Autorin, versehen mit deutschen Untertiteln, zu finden auf www.insel-verlag.de/orchardstreet.