Rezension

Fesselnd und aufwühlend

Liberty Bell - Johanna Rosen

Liberty Bell
von Johanna Rosen

Zum Inhalt:

Liberty Bell lebt alleine in einer alten Hütte in den Wäldern Oregons. Sie ist schmutzig, aber auch wunderschön – findet Ernesto. Durch das Video eines Freundes ist er auf das das Mädchen aus den Wäldern aufmerksam geworden und möchte nun ihr Vertrauen gewinnen. Dies gelingt ihm auch, doch dann wird Liberty Bell entdeckt und die Dinge nehmen ihren Lauf… Sie wird in die reale Welt katapultiert, die ihr bislang vollkommen fremd war, in der alles neu und beängstigend für sie ist. Als dann auch noch ein Mord geschieht, ist endgültig nichts mehr so, wie es einmal war.

Meine Meinung:

“Ernestos Blick wanderte von dem nassen, blutigen Felllappen in den Händen des Mädchens zu ihrem eigenartigen, rötlich braunen Lendenschurz, den sie um die Hüften trug. – Was ging hier vor?” (Seite 36/37)

Es hat eine Weile gedauert, bis ich vollkommen in die Geschichte eintauchen konnte – der Einstig fiel mir nicht leicht. Bis es zu der schicksalhaften Begegnung kommt, die das Leben von Liberty Bell und Ernesto für immer verändern wird, ist das Buch eher eine kleine Charakterstudie über Jungs im Teenageralter, mit teilweise recht ungewöhnlichen und schwer zu merkenden Namen, die von ihrem eintönigen Leben in der Kleinstadt Old Town in Oregon ziemlich gelangweilt sind. Eigentlich fand ich es mal ganz nett, dass halbstarke Fast-Erwachsene der Dreh- und Angelpunkt sind. Aber irgendwie habe ich zu Beginn des Buches nicht so wirklich was mit ihnen, oder zumindest mit einem Teil der Clique, anfangen können. Nach und nach macht diese Charakterstudie aber immer mehr Sinn und wird wichtig für die Geschichte. Ebenso wie die Einblicke in die Familienverhältnisse der Jungs.

“Schattenwelt? Ernesto erinnerte sich daran, dass sie schon mal etwas Ähnliches gerufen hatte, beim letzten Mal, als Darayavahush so plötzlich und unerwartet aufgetaucht war. Richtig, damals hatte sie >>Schattenmenschen<< gerufen.” (Seite 75)

Das Buch ist eine kleine Wundertüte. Zum einen ist es nicht, wie vielleicht zu vermuten, aus der Sicht von Liberty Bell geschrieben, sondern aus Ernestos. Zum anderen geht es nicht vorrangig um das Leben von Liberty Bell im Wald und wie sie sich nach ihrer Entdeckung nun in der zivilisierten Welt zurechtfindet. Vielmehr geht es ab einem gewissen Punkt darum, woher Liberty Bell eigentlich stammt und wie es überhaupt dazu kam, dass sie ihre bisherigen 17 Lebensjahre im Wald verbracht hat. Nach und nach verschiebt sich der Fokus auf die Handlungen, die zu Beginn nur am Rande ein Thema waren und das Buch entwickelt sich zu einem spannenden Jugendthriller.

Aber auch die angepriesene Liebesgeschichte kommt vor – wenn auch nicht in dem Maße, wie man denken und vielleicht auch hoffen könnte, wenn man das Buch aufgrund der Inhaltsangabe im Internet erworben hat. Johanna Rosen hat diese zarten Gefühle mit gleichermaßen zarten Worten beschrieben. So wirkt die dieser Teil der Geschichte nicht kitschig oder überladen, und man hat als Leser die Möglichkeit, zwischen den Zeilen zu lesen. Das trifft auch auf Liberty Bell zu, die man lediglich durch die Beobachtungen und Gedanken von Ernesto kennen lernt.

“Man hatte ihr alles genommen: ihre Freiheit, ihre Selbstbestimmung, ihren Wald, ihr Zuhause. Verdammt, wie sollte sie klarkommen? Ernesto sah den dünnen Plastikschlauch, der unter ihrer Bettdecke hervorlugte, und wusste, was er bedeutete: Es war ein Blasenkatheter. Sogar die Möglichkeit, alleine pinkeln zu gehen, hatten sie ihr genommen.” (Seite 179)

Man muss während des Lesens ein gewisses Maß an Konzentration mitbringen. Es kommen sehr viele Personen und Schauplätze in diesem Buch vor. Viele Puzzleteilchen kreuzen den Leseweg und so wird die Geschichte mit der Zeit immer komplexer und einnehmender. Meine innere Anspannung wuchs mit jedem Wort. Gemeinsam mit den beiden Hauptdarstellern Ernesto und Liberty Bell nahm ich die Herausforderung an, versuchte den Überblick zu behalten und des Rätsels Lösung zu finden. Die abscheulichen und grausamen Hintergründe, von denen ich nach dem Prolog schon eine leise Ahnung hatte, überrollten mich dann am Ende des Buches wie die sprichwörtliche Dampfwalze. Schockiert las ich, wie es dazu kam, dass Liberty Bell ihr bisheriges Leben im Wald fristete, und musste mir, weil ich traurig, wütend, gerührt und entsetzt war, die eine oder andere Träne wegwischen.

Aufgrund der Inhaltsangabe hatte ich mich innerlich auf eine romantische Liebesgeschichte zweier Jugendlicher eingestellt, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Genau das habe ich auch bekommen. Aber nicht bloß das, denn dieses Buch bietet so viel mehr… Es ist ein fesselnder und aufwühlender Jugendthriller mit absoluter Sogwirkung.

>>… und dann kamst … du. Wie aus dem Nichts … Ich hatte so lange mit niemandem mehr gesprochen. Außer mit meinen Tieren …<< (Seite 201)

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