Rezension

Gottverlassen, teufelsnah

Loney - Andrew Michael Hurley

Loney
von Andrew Michael Hurley

Bewertet mit 3 Sternen

Es hßt ja ds das Ghirn gr nicht alle Bchstbn brcht, um die Wrter zu erfssn und ihrn Snn zu versthn. Daher ist es nicht verwunderlich, dass ich den Titel von Andrew Michael Hurleys Debütroman konsequent mit einem „l“ lese: also Lonely statt Loney. Dass die Buchstaben sich auf dem Cover aufeinander in die Senkrechte stapeln, trägt sicher auch dazu bei. Und so verkehrt ist das Wortspiel Loney-Lonely ja nun auch nicht. In diesem Küstenort scheint ja nicht einmal mehr Gott zu existieren, auch wenn das die Mutter von Hanny und Tonto felsenfest zu glauben scheint. Gott spielt in ihrem Leben eine wichtige Rolle. Es fällt schon schwer, sich vorzustellen, dass Esther Smith in London leben soll. In London, Saint Jude's in den 70er Jahren spielt der Glaube, die Kirche und Gott eine große Rolle. Ein enger Kreis um Father Wilfred und Mrs Smith fuhr jedes Ostern nach The Loney – eine Art Pilgerreise wie nach Lourdes, nur Hanny ist immer der selbe geblieben wie auch vor der Reise. Beim letzten Ausflug nach Loney hatte Father Wilfred offensichtlich ein verstörendes Erlebnis. Er war danach nie wieder der selbe, man fuhr nicht mehr in die Wallfahrtskirche bis Father Wilfred starb und Mrs Smith seinen Nachfolger zu einem erneuten Osterausflug überrumpeln konnte. Doch Father Bernard ist nicht Father Wilfred und geht die Dinge in seiner eigenen Art an, davon ist Mrs Smith wenig begeistert. Und auch sonst so hat sich das Fleckchen Erde verändert. Die Menschen sind noch seltsamer und verschlossener als früher, geradezu feindselig. Nur in Coldbarrow, dem letzten Haus vor dem Meer, sind Neuankömmlinge von Tonto und Hanny gesichtet worden. Sie haben ein junges hochschwangeres Mädchen dabei und Hanny fühlt sich von ihr äußerst angezogen, damit bringt er seinen kleinen Bruder in arge Bedrängnis. Denn Hanny ist geistig zurück geblieben, kann nicht sprechen und handelt oft unberechenbar wie ein kleines Kind, wenn er auch körperlich auf dem besten Wege ist ein Mann zu werden. Für seine Gesundung wird die Pilgerreise überhaupt veranstaltet, denn Mummer, wie Mrs Smith von ihren Söhnen genannt wird, kann sich nicht abfinden mit dem behinderten Kind. Während Gott aber Abschied von The Loney genommen hat, scheinen andere Phänomene ihren Einzug zu halten. Die blinde Mutter vom Hausverwalter Clement kann wieder sehen, der alte Bauer mit der ungesunden gelben Gesichtsfarbe wirkt ein paar Tage später wie neu geboren und schließlich wird auch Hanny gesunden. Das ist überhaupt der Grund für die Erzählung durch Tonto bzw. eigentlich ist der Grund, dass man 30 Jahre nach dem letzten Ausflug der kleinen Londoner Gemeinde eine Babyleiche in den Trümmern von Coldbarrows findet.

Ja, diese Inhaltsangabe hat es in sich. Es ist gar nicht so einfach, grob wieder zugeben worum es eigentlich geht und dabei nicht zuviel zu verraten. Dabei tappt als Leser ganz schön lange im Dunklen, obwohl mit dem Beginn der Geschichte klar wird, dass der geistig behinderte Andrew, genannt Hanny, in der Gegenwart ein ganz normales Leben als Familienvater führt, während der normale kleine Bruder regelmäßig auf der Couch bei seinem Therapeuten Platz nimmt und auch sonst wie ein Einsiedler durch seinen überschaubaren Alltag wandelt, nach wie vor besorgt um den großen Bruder, auf den er seit seiner Geburt aufpassen musste. Eine Angewohnheit, die er nicht mehr ablegen konnte und gar nicht mehr gewünscht wird. Das gruseligste an The Loney ist dabei weniger der Ort, das merkwürdige Anwesen Moorings oder Coldbarrow, sondern für mich ist es Mummer. Diese Mutterfigur lässt mir während der Lektüre regelmäßig die Nackenhaare zu Berge stehen. Ihr vernagelter Glaube, der geradezu etwas autistischen an sich hat, ihre Geringschätzung für ihre Familie und ihre Mitreisenden, insbesondere für den neuen, jungen Pater, hat etwas psychopathisches. Überhaupt ist mir diese ganze christliche Reisegesellschaft sehr suspekt. Nach außen die perfekten Christen trägt jeder einzelne an seinen vermeintlichen Sünden. Auch die Geschichte um den verstorbenen Father Wilfred ist verstörend. In den Rückblenden von Tonto erscheint er wie einer dieser sadistischen Lehrerfiguren, die ihre Schützlinge mit dem Rohrstock nur zu ihrem Besten vermöbeln. Die Umstände seines Todes scheint hingegen die Erwachsenen umzutreiben. Geheimnisse um Geheimnisse und mittendrin ein halbwüchsiger Junge, der die Verantwortung für seinen großen Bruder tragen muss und dabei fast genauso wenig von dem versteht, was um ihn herum vor sich geht.

Der Roman bietet eine gute Vorlage für einen dieser unheimlichen Pseudohorrorfilme, die enden, ohne dass sich die Pointe mit Sicherheit vom Zuschauer hat ergründen lassen. Die Geschichte ist vorbei, doch das beklemmende Gefühl bleibt. Stellenweise habe ich mich während der Lektüre nach einem anderen, sonnigeren Buch gesehnt. Und ich hätte Tonto gern ab und zu tröstend in den Arm genommen bzw. seiner Mutter ordentlich die Meinung gesagt. Doch mir bleibt nur der Beobachtungsposten und am Schluss muss ich sagen, es ist gut, dass in Büchern irgendwann einen Schlusspunkt hinter den letzten Satz gesetzt wird.