Rezension

Russischer Mikrokosmos im besten Haus am Platz

Ein Gentleman in Moskau - Amor Towles

Ein Gentleman in Moskau
von Amor Towles

Bewertet mit 3.5 Sternen

Amor Towles muss wie ich ein großer Fan der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts sein. Anders kann ich es mir kaum erklären, warum ein amerikanischer Autor ausgerechnet einen Lebensroman über einen russischen Grafen schreiben sollte, der Hausarrest im besten Hotel Moskaus bekommt und dort die Ära des Kommunismus miterleben muss.

Anfänglich ist der Einstieg bei Towles ähnlich zähflüssig wie bei Tolstois großen Meisterwerken. Kein Grund für mich das Buch beiseite zu legen, man muss sich einfach auf den Erzählfluss einlassen und sich Seite für Seite vorarbeiten. Das Lesevergnügen stellt sich dann ganz unverhofft von selbst ein.

Eigentlich hätte Graf Rostov wie alle übrigen Adligen ab 1917 um die russische Revolution herum an die Wand gestellt werden sollen. Doch in seiner Jugend schrieb er ein glühendes Gedicht gegen den Adel und die Leibeigenschaft, ging nach Paris ins Exil und kam nach dem Umsturz durch Lenin zurück in die Heimat, das hat ihn gewissermaßen das Leben gerettet. Statt Hinrichtung gewährt ihm die neue Obrigkeit eine bescheidene Unterkunft im Moskauer Hotel Metropol und stellt ihn unter lebenslangen Hausarrest. Er wird zum feinsinnigen Beobachter einer vergangenen Epoche. Das Hotel bildet wie in einem Mikrokosmos die ganze Welt ab und Russland hat hier in ihr die Oberhand. Doch können sich auch die neuen Herrscher an der Macht nicht allzu lange vor der Welt verschließen und schon bald öffnen sich auch im Metropol wieder die Hoteltore für die Mächtigen und die Berühmten, die Presse und die Diplomaten. Der Graf ist mittendrin, bleibt seiner Rolle als perfekter Gentleman treu und findet seine Bestimmung in einer sinnvollen Tätigkeit. Er lernt Freunde fürs Leben kennen, erfährt die Liebe und eine unverhoffte Vaterschaft. Es ist eine Freude, sich mit ihm durch die Jahrzehnte zu drehen und die Veränderungen dieses riesigen Reiches im kleinen Hotel-Mikrokosmos nachzuspüren. Towles spart nicht mit Verweisen und Anknüpfungen an die großen russischen Literaten. Er stellt einen klugen Spagat her zwischen den zwei so gegensätzlichen Epochen: das Zarenreich mit seiner gebildeten, kultivierten Adelsklasse und die neue Zeit des Kommunismus, in dem sich die Unterdrückten gegen ihrer Herren richten und bald selbst zu schlimmsten Unterdrückern werden. Graf Rostov ist das Bindeglied zwischen diesen beiden Phasen, der Leitstern in dieser wirren Welt, ein Gentleman durch und durch. Ein Ideal an Menschlichkeit, Gelassenheit, Güte und Herzenswärme sowie Esprit und Klugheit gepaart mit kleinen Schwächen, die ihn umso menschlicher erscheinen lassen. An ihm als Fixstern spielt Towles die Entwicklung der neuen russischen Republik wie auf einer Leinwand ab. Er deutet an, spielt mit Klischees, spart mit Fakten, wo sie ihm nicht nötig erscheinen und setzt ausführliche Fußnoten, um über den Text noch eine Wissensebene einzuziehen. Es ist vielleicht kein Roman, den Tolstoi oder Dostojewski so über ihr Land geschrieben hätten. Aber es ist eine interessante Sicht eines Schriftstellers von außen, der sein Ideal von einem russischen Gentleman einer vergangenen Zeit, so wie er ihn vielleicht bei Tolstoi beschrieben fand, einer neuen Ära gegenüberstellt. Eine Ära, die er auch nur von außen betrachten kann, der er wie seine Figur nicht angehört, die ihm Rätsel aufgibt und gleichermaßen fasziniert wie abstößt.