Rezension

Berührende Geschichte

Weil du mich riefst -

Weil du mich riefst
von Emma Wagner

Bewertet mit 5 Sternen

„...Vor Urzeiten, als die Titanen sich stritten, die Berge noch ohne Namen waren und kein Menschenauge die Flüsse erblickt hatte, lebten die Götter in einem Land, in dem der Sommer ewig währt und das Meer in hundert verschiedenen Blautönen leuchtet...“

 

Mit diesen Worten beginnt eine Sage, die die Mutter der fünfjährigen Tina erzählt. Dieser Tag allerdings wird sich aus einem anderen Grund tief in Tinas Seele brennen. Ihre Mutter glaubt, jemand an der Bushaltestelle in London gesehen zu haben und verliert ihr Lächeln.

Mittlerweile sind 19 Jahre vergangen. Tina arbeitet in London im Restaurant ihres Vaters. Als ein Gast ihren Armreif sieht, den sie von der Mutter erhalten hat, macht er sie darauf aufmerksam, dass der sicher auf Zypern hergestellt wurde. Der Gedanke lässt Tina nicht los. Da sie einen gemeinsamen Urlaub mit ihrer Freundin Colleen plant, entscheiden sie sich für Zypern.

Die Autorin hat einen spannenden und gefühlvollen Roman geschrieben. Die Geschichte wird in zwei Zeitebenen erzählt. Einerseits darf ich Tina und Colleen auf ihrer Reise begleiten, andererseits erfahre ich, was im Bürgerkrieg 1974 auf Zypern geschehen ist.

Der Schriftstil passt sich gekonnt dem Inhalt an. Die Freundinnen Tina und Colleen sind wie Feuer und Wasser. Tina sehnt sich nach ein paar Tagen der Ruhe. Colleen will das Debakel um ihren letzten Freund vergessen und sucht Abwechslung. Außerdem ist sie perfekt im Flirten.

Die Geschichte im Jahre 1974 beginnt mit einer Hochzeit. Das ganze Dorf feiert mit. Doch über der friedlichen Atmosphäre liegt ein dunkler Schatten. Ein Verwandter des Bräutigams scharrt die Zyperntürken um. Die ersten Samen von Misstrauen werden gesät.

Sehr detailliert und mit passenden Metapher wird die Landschaft auf Zypern beschrieben.

 

„...Plötzlich erscheint in dem Strahl eine gigantische Felsformation im Wasser. Sie wirkt deplatziert an dem ansonsten leeren Küstenabschnitt. Von der aufsprühenden Gicht umgeben, wirkt der mächtige Fels, als seien er und seine drei kleinen Geschwister erst in diesem Moment aus der Tiefe des Meeres aufgetaucht...“

 

Im Jahre 1974 gehört als zu den Belustigungen im Ort, dass sich der Hodscha und der Papas bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit streiten. Dabei sind sie eigentlich die besten Freunde. Manchmal allerdings sind sie sich einig.

 

„...Hinter sich hörte Yasin den Hodscha leise grollen: „Eine Frau sollte nicht wie eine dornige Rose sein!“ „Sondern wie eine Lilie, zart und gefügig“, stimmte der Papas – ebenfalls möglichst leise – zu...“

 

Auch bei den Zyperngriechen taucht der erste auf, der das Feuer des Hasses schürt. Es ist Stefanos, der Neffe des Polizisten. Und mittendrin stehen Elif, Yasim, Samira und Dimi. Die vier haben ihre Kindheit Seite an Seite verbracht. Plötzlich zählt das nicht mehr. Es zählt nur noch, zu welchem Volk man gehört.

Auch in der Gegenwart trifft Tina erst einmal auf Schweigen. Dabei ahnt sie überhaupt nicht, was sie mit Zypern verbindet. Angeblich waren ihre Eltern nie dort. Die Folgen des Bürgerkrieges aber sind im Land spürbar, äußerlich an den zerstörten Städten, innerlich in den Seelen der Menschen, die Verwandte verloren haben und nicht wissen, was mit ihnen passiert ist. Bei Yasin klingt das 1974 so:

 

„...Ich weiß nicht, ob wir einen Fehler machen. […] Es geht hier nicht einmal um Religion, sondern um Politik. Das hier ist so viel größer als wir...“

 

Alec, der heute zu denjenigen gehört, die die Vergangenheit aufarbeiten, sagt dazu:

 

„...Was sich damals ereignete, geschah, weil große Herren ihre eigenen Interessen hatten. Weil Regierungen verschiedenster Länder um diese kleine Insel gepokert und Unruhen angezettelt haben. Die Menschen, die hier lebten, waren ihr Faustpfand, ihr Leid war ihnen egal...“

 

Der Roman enthält viele bewegende Szenen. Neben den Ausbruch von Gewalt und Hass gibt es eine romantische Liebesgeschichte. Welchen Preis aber werden die Liebenden zahlen?

Das Buch hat mir ausgezeichnet gefallen. Unterschwellig steht immer eine Frage im Mittelpunkt. Wie können aus Nachbarn und Freunden Gegner werden? Wie gelingt es dem Hass, sein zerstörerisches Werk zu beginnen? Die Fragen sind heute so aktuell wie 1974. Das Buch bekommt von mir eine unbedingte Leseempfehlung.