Rezension

Buch entwickelt sich rückwärts

Wir für uns -

Wir für uns
von Barbara Kunrath

Meine Meinung
Allgemein

Zuversichtlich, dass ich hier das Buch des Jahres in den Händen halte, war ich nach nur wenigen Seiten. Eine Erwartung wurde aufgebaut, die sich gegen Ende leider nicht halten konnte.

Zunächst schien das Buch wie auf mich zugeschnitten. Die Protagonistin hatte dieselben Zweifel, Gedanken und Erfahrungen im Leben und der Schreibstil war so locker, leicht, dass ich wie auf Wolken über die Seiten schwebte.
Sensible Themen zogen sich durch das ganze Buch. Abtreibung, alleinerziehend, Trisomie und auch der Klimawandel und Homosexualität spielten eine Rolle. Vor allem Abtreibung und Trisomie sind Themen, die gerne unter den Tisch fallen oder negativ dargestellt werden und ich bedanke mich für diese kleine Aufklärungsstunde.
Die Autorin scheint ein Gespür für die verschiedenen Sichtweisen der Menschen zu haben, weshalb mir besonders gut gefiel, dass sie verdeutlichte, dass das Aufklärungsgespräch vor einer Abtreibung auch mit dem Alter variiert. Hier wird niemand gezwungen seine Entscheidung zu überdenken, doch gerade weil die Protagonistin bereits 41 ist, sollte diese angeregt werden, einmal mehr alle Eventualitäten zu überdenken.
Vielen Büchern entgleitet der Schwung, weil Probleme künstlich in die Länge gezogen werden. Bei „Wir für uns“ war es das genaue Gegenteil. Probleme werden zügig gelöst, was mich zunächst freudig stimmte, doch gegen Ende wieder umschwang. Viele spannende Themen wurden mit dem Standardsatz „Lass gut sein“ um ein paar Seiten mehr künstlich in die Länge gezogen. Was ich anfangs angenehm ehrlich fand, tolerierte ich später mehr.
Noch ein Punkt, der mit der Zeit schwächelte, war die innere Stärke der Protagonistin. Mein Gefühl sagt, dass sie am Anfang unentschlossen und unbestimmt wirken und sich gegen Ende zu einer toughen Frau entwickeln sollte. Ich empfand es als das komplette Gegenteil. Aus meiner Sicht ist es tough 9 Jahre eine Beziehung aufrecht zu erhalten, die keine ist. Es ist stark, sich gegen diese Beziehung dann aufzulehnen und seinen eigenen Weg zu gehen. Das ganze Buch schreit nach: Stehe zu dir selbst und das Leben fügt sich. Josis Partner hat keinen Raum bekommen, um sich zu besser und seine gute Seite zu zeigen. Für mich verkörperte jede Handlung Frauenpower, weshalb es mich enttäuschte, als auf einmal eine Liebesgeschichte ins Buch gedrückt wurde, die es gar nicht nötig hätte. Das Buch hätte wunderbar ohne funktioniert. Noch dazu wirkte es, als mache sich Josi für diese Beziehung wieder klein. Auch ihrer Mutter gegenüber wollte sich Josi behaupten, doch auch hier wirkte es wie einknicken. Wie ankriechen. Josi wirkte schwach am Ende.

Charaktere

Jetzt habe ich so viel über Josi gequatscht, aber es gab ja noch einen zweiten Erzählstrang. Aus einer anderen Erzählperspektive und wesentlich kürzer als Josis. Sie handelt von Kathi. Eine ältere Dame, die festgefahren ist in ihren Denkmustern und Gewohnheiten. Sie wuchs in einer ganz anderen Zeit auf als Josi und ihr fallen viele Anpassungen schwer. Sie nimmt die Windungen des Lebens, wie sie kommen und denkt da nicht viel drüber nach. Sie ist für die Leute um sich herum unnahbar – so auch für mich. Wieder gab es viele Thematiken, die zügig abgefertigt wurden und gegen Ende fehlte mir Kathis Selbstreflexion.
Nebst den beiden war das Buch überfüllt mit Charakteren. Da gab es Josis Ex und seinen besten Freund, die Nachbarin mit Kind, den Landwirt, Kathis Sohn und dessen Frau, Josis Mutter, Josis Bruder und dessen Frau. Durch viele dieser Sidekicks wurden schwierige Themen an die Oberfläche befördert. Niemand war überflüssig. Doch wie oben schon erwähnt, waren viele Thematiken auch schnell abgehakt oder brachten das Buch nicht vorwärts.

Schreibstil & Sichtweise

Der Schreibstil war genau das, was das Buch lebendig gemacht hat. Er wirkte nicht gestellt, sondern direkt aus dem Leben. Alle Gedankengänge und Handlungen wirkten real und so flüssig schaffe ich es nur noch selten zu lesen. Ich habe das Buch in wirklich wenigen Stunden weggelesen und würde jederzeit wieder zu einem von Kunraths Büchern greifen.
Verwundert hat die Sichtweise, denn beide Handlungsstränge wurden aus verschiedenen Perspektiven erzählt. So durfte Josi aus der Ich-Perspektive erzählen und Kathi bekam einen personalen Erzähler. Die Vermutung liegt nahe, dass die Erzählweise genutzt wurde, um verschiedene Nähestufen zu suggerieren.

Cover & Titel

Das Cover ist sehr schlicht gehalten. Es gibt keine versteckten Botschaften, die man im Buch wiederfinden könnte. Höchstens Leichtigkeit leben, durch den Hauch Natur. Mir gefällt die Farbgebung und Stil und obwohl das Cover nicht außergewöhnlich ist, würde es mir im Buchladen wohl ins Auge springen.
Den Titel finde ich schwer zu interpretieren. Er kann für mich im Singular gedeutet werden, dass jede Figur „wir“ ein Stück zu sich selbst „uns“ findet. Oder im Plural, dass die Charaktere zu einer Gemeinschaft zusammenwachsen.

Zitat

„Ein Kind nicht zu bekommen ist schließlich keine Kleinigkeit, jedenfalls, wenn es das Kind schon ein bisschen gibt.“ – Seite 28

Fazit

Ein Buch, welches sehr stark angefangen hat, gegen Ende dann aber nicht stimmig wurde. Ich empfand, dass wichtige Kernaussagen fallen gelassen oder gar revidiert wurden. Der Schreibstil und die Grundgedanken überzeugen aber soweit, dass ich gerne zu einem weiteren Buch der Autorin greifen werde.