Rezension

Dramatisch, spannend, emotional – ein wundervoller historischer Roman

Das Seehospital - Helga Glaesener

Das Seehospital
von Helga Glaesener

Bewertet mit 5 Sternen

Dieses war mein erstes Buch von Helga Glaesener – und es hat mich restlos begeistert!

Es ist das Jahr 1920 und die junge Medizinstudentin Frida kehrt anlässlich der Beerdigung ihres Großvaters in ihre Heimat zurück. Auf Amrum ticken die Uhren noch anders, vor allem im Kirschbaum’schen Elternhaus, das von außen wie eine mondäne Villa anmutet, innen jedoch mit Gefühlskälte durchzogen ist und einem Eispalast gleicht. Umso mehr freuen sich Fridas jüngere Geschwister über deren Ankunft, denn bei Mutter Rosa und (Stief-)Vater Rudolf gibt es wenig zu lachen – stets dreht sich alles nur um Finanzen und darum, die Töchter möglichst vorteilhaft zu verheiraten. Zu Fridas Entsetzen will die Familie das vom Großpapa gestiftete Seehospital schließen und in ein exklusives Kurhotel umwandeln – ein indirektes Todesurteil für die erkrankten Waisenkinder, denen auf dem Festland kaum Unterstützung winkt. Noch ahnt Frida (für die es nicht infrage kommt, die kleinen Patienten jetzt im Stich zu lassen) nicht, welche Auswirkungen ihr Handeln haben wird…

Bezüglich des Inhalts möchte ich ergänzen, dass dies kein reiner Krankenhaus-Roman ist, der sich ausschließlich in den Räumlichkeiten einer Pflegeanstalt abspielt. Dennoch hat das Seehospital, wo lungenkranke Waisenkinder betreut werden, eine tragende Rolle und der Kampf um dessen Erhalt wird ebenso in die Handlung eingebunden wie die Lebensumstände derer, die es verwalten: Familie Kirschbaum.

Von der ersten Seite an hat mich der fesselnde, angenehme Schreibstil derart in den Bann gezogen, dass ich einfach nicht aufhören konnte zu lesen. Die intensiven, bildhaften Beschreibungen ließen mich komplett eintauchen in die Handlung und weckten in mir die Sehnsucht, selbst einmal wieder ans Meer zu reisen. Man spürt förmlich das Salz auf den Lippen, den Wind in den Haaren, den Sand unter den Füßen und hört das Kreischen der Möwen. Doch auch der Esprit der norddeutschen Metropole Hamburg wird gekonnt eingefangen und beleuchtet das damalige Leben in der Großstadt - mit all seinen Facetten. Der Krieg mag zwar vorbei sein, doch es herrscht bittere Armut und Hunger. Gegen das beschauliche, idyllische Amrum, wo die Menschen einander kennen und seit jeher zusammenhalten wirkt Hamburg wie ein Mosaik bunt durcheinandergewürfelter Schicksale – jeder kämpft für sich. Allerdings gibt es auch Menschen, die sich der Wohlfahrt verschrieben haben und Erfüllung darin finden, den Kriegsinvaliden und Prostituierten, die abseits der elitären Viertel ein Schattendasein fristen, zu helfen. Eine dieser beeindruckenden Persönlichkeiten ist Jenny Hopf.

Alle Figuren, sowohl Hauptfiguren wie auch Nebenakteure, sind herausragend ausgearbeitet worden und wirken in ihrem Wesen ungemein tiefgründig und überaus vielseitig. Die authentischen Dialoge tragen ihren Teil dazu bei. Frida, die älteste der Kirschbaum-Schwestern, ist jemand, mit dem ich zu gerne befreundet wäre und die mir von allen Charakteren am vertrautesten geworden ist. Sie hat das Herz am rechten Fleck und ich kann ihre Gedankengänge, ihre Emotionen zu jedem Zeitpunkt nachvollziehen. Frida erkennt ganz genau, was um sie herum passiert, lässt sich weder einschüchtern noch einlullen und steht für ihre Wünsche und Ideale ein – selbst wenn das bedeutet, sich gegen gewisse Mitglieder ihrer Familie stellen zu müssen. Auch Louise und Emily, die zwei jüngeren Mädchen der Familie, habe ich – jede auf ihre eigene Art und Weise – ins Herz schließen können. Nicht alle ihrer Handlungen konnte ich gutheißen, allerdings fiel es mir leicht, mich in ihre Situation hineinzuversetzen – jeder Mensch reagiert individuell auf (unerwünschte) Neuerungen im Leben. Christian war mir mit Abstand der verhassteste Charakter. Jetzt fragt man sich vielleicht: was kann an einem pubertären Jungen denn so furchtbar sein? Nun, an seinem Beispiel zeigt die Autorin, dass man bei Menschen keine Kategorisierung in "nur gut" oder "nur böse" vornehmen kann. Trotzdem war mir selten eine Figur (die hier glücklicherweise nur eine Nebenrolle spielt und den Gesamteindruck keineswegs trübt, sondern lediglich die Handlung vorantreibt) so zuwider.

Erzählt wird aus verschiedenen Perspektiven, die jeweils in eigene Kapitel unterteilt sind und dem Werk somit eine stimmige Struktur geben. Zudem wird die Spannung kontinuierlich erhöht und man muss einfach immer weiterlesen, so mitreißend ist die Entwicklung der Geschichte. Es gibt keine großen Zeitsprünge oder sonstige Ungereimtheiten, dafür eine Vielzahl zusätzlicher Einblicke und mehr als nur eine unerwartete Wendung. Auch wenn hier und da ein düsteres Thema angesprochen wird, überwiegt ein positiver Eindruck.

Fazit: Dieses Werk hat alles, was ich mir von einem historischen Roman wünsche: eine interessante Familiengeschichte voller Geheimnisse, wunderschöne Landschaftsbeschreibungen, eine starke Frau als Hauptfigur, Zeitgeist und Lokalkolorit und jede Menge Gefühl.