Rezension

Ergreifend. Mein Lesehighlight 2019

Die Glocke im See - Lars Mytting

Die Glocke im See
von Lars Mytting

Bewertet mit 5 Sternen

Kurzmeinung: Mit Lars Mytting gibt es endlich wieder einen großen Erzähler! Dicke dicke Leseempfehlung für die Geschichte der Stabskirchen Norwegens!

Lars Mytting ist ein Autor, dessen Namen man sich merken sollte. Möglicherweise ein Anwärter auf den Literaturnobelpreis!

Im einzelnen:

Ausser in Science Fiction und Fantasy hat Mystik und Mythos meines Erachtens nichts in der Gegenwartsliteratur zu suchen. Ausser, man macht es so geschickt wie Lars Mytting. In seine Familiengeschichte, die zentral um 1880 in Butangen spielt, einem abgelegenen Dorf in Norwegen, ist Mystisches so geschickt hineinverwoben, so unverkünstelt verarbeitet, dass man sich die Augen reibt und ihm glaubt. Natürlich gibt es Erscheinungen, natürlich gibt es alte Stimmen, natürlich gibt es Voraussagen, natürlich gibt es alles Mögliche. Einen Hauch Übernatürliches hat Lars Mytting also um und in seine Geschichte gelegt, so fein, dass er auch wahr sein könnte.

Der neue Pfarrer Kai Schweigaard hat keine Ahnung von der Historie der Schwesternglocken, die in seiner Kirche, der Butangener Stabskirche hängen. Sie wurden seinerzeit aus traurigem Anlass gestiftet, anlässlich des Todes der Hekneschwestern Gunhild und Halfried. Der Silberanteil der Glocken macht ihren Klang besonders und, so heisst es, sie läuten ganz von selber, wenn schlimme Gefahr droht.

Die Geschichte der norwegischen Stabskirchen ist der historische Hintergund, den Lars Mytting dem Leser auf ergreifende Weise näherbringt.

Wenn Kai Schweigaard auch nicht um die Kunstwirksamkeit seiner Kirche weiss, so wissen es die Kunstgeschichtler Dresdens wohl und vom Olymp der Universität herab wird der angehende Architekt, Gerhard Schönauer, damit beauftragt, nach Butangen zu reisen, um die Kirche zu zeichnen, ihren Abbau zu begleiten, sie nach Hause zu bringen und in Dresden wieder aufzubauen: Die Universität hat die baufällige Kirche gekauft, samt den Glocken und einem feingeschnitzten kostbaren Portal, was ein mildtätiges Werk ist einerseits, um den Dörflern den Bau einer neuen Kirche zu ermöglichen, eine, die warm geheizt werden kann, und in der keine Gläubigen mehr während der Messe erfrieren, und andererseits um die alten baufälligen, aber kunsthistorischen einmaligen Stabskirchen Norwegens vor dem Verfall zu retten und sich dadurch in der Gelehrtenwelt einen unsterblichen Namen zu machen. Dreimal darf man raten, welches Motiv das wahre ist, welches das vorgeschobene!

Meisterhaft nimmt Lars Mytting die Strukturen der Institutionen des 19. Jahrhunderts aufs Korn. Die göttergleiche Macht der Professoren, die skrupellos ihre Position ausnutzen, die Herablassung von Ärzten, die unangefochtene Autorität der Obrigkeit. Auch das Wort des Pfarrers ist Gesetz.

Die Figuren in dem Roman sind bis hinunter zur missmutigen Haushälterin mit so viel Charakter und Eigenheiten ausgestattet, dass sie ein Eigenleben haben, einzigartig sind und man sie samt und sonders kennenlernen möchte, die Dialoge sind kräftig, authentisch, die Schilderung der Natur stimmig. Die Sprache des Romans ist schön. Es gibt viele wunderbare Bilder, jedoch nicht zu viele. Die Übersetzung aus dem Norwegischen ist meisterhaft geglückt.

Die Geschichte der Glocken von Butangens Kirche, die Geschichte der Bewohner dieses Dorfes und der Fremden aus Dresden, darf man sich nicht entgehen lassen.

Wir Leser sind verliebt in Astrid, die weibliche Hauptfigur, die tapfer für ihre Interessen streitet, die jung und neugierig ist, obwohl sie niemals aus ihrem Dorf hinausgekommen ist, in die Hebamme des Dorfes, die mehr weiß als viele andere, in den griesgrämigen Pfarrer, der seine eigenen Grenzen sprengt, und in den jungen Kunst- und Architekturstudenten, der seine Rolle nicht durchschaut.

Wie die Begegnung zwischen Kunst, Dorfleben und Glauben verläuft, wie die Interessenskonflikte zwischen purem Überlebenwillen und dem Anspruch nach „Höheren“ widerstreiten und aufeinander prallen und sich, nicht immer zum Guten, im Leben der Butanger spiegeln, davon erzählt Lars Mytting in „Die Glocke im See.“

Fazit: Man kann nicht anders, als alle Figuren in „Die Glocke im See“ zu lieben, sich begeistert hineinnehmen zu lassen in eine alte Sage, in eine bedrückende Stimmung von Schicksal und Glauben, Liebe und Verrat, Leben und Tod und für immer ein „Butangener“ zu bleiben.

Dicke Leseempfehlung!

Kategorie: Belletristik // Inselverlag, 2019

Kommentare

Emswashed kommentierte am 13. September 2019 um 09:51

Wie gesagt, ich staune... aber dieses Buch landet wohl auf meiner Wunschliste.

wandagreen kommentierte am 13. September 2019 um 10:29

Das da, habe ich schon Anfang des Jahres "gelesen" als Hörbuch, aber da meine Rezension dazu bei Alines Vorstellung nicht einmal auftaucht, habe ich mir erlaubt, sie noch einmal unter dem Hartcover einzustellen.

Ich habe inzwischen ein zweites Highligt: das sind Die Winterbienen von Norbert Scheuer. Tolles Buch. /Beide Romane sind so unterschiedlich wie es unterschiedlicher fast gar nicht geht und trotzdem haben sie beide mein Herz erobert.