Rezension

Lebendige Geschichte in einer sinnlosen Rahmenhandlung

Hannah und ihre Brüder - Ronald H. Balson

Hannah und ihre Brüder
von Ronald H. Balson

Bewertet mit 2.5 Sternen

Dieses Buch hat mich mir sehr gemischten Gefühlen hinterlassen. Wir bekommen zwei verschiedene Zeiten präsentiert, einerseits die Vergangenheit, in der die Geschichte von Ben Solomon im Polen während der NS-Zeit erzählt wird, und andererseits die Gegenwart, das Jahr 2004, in welchem er die Geschichte erzählt und die Ermittlungen gegen Rosenzweig, den Ben für einen NS-Verbrecher hält, laufen. Die Geschichte aus der Vergangenheit ist interessant und macht das Grauen des Nazi-Regimes lebendig. Alles, was im Jahr 2004 spielt, hat mich zunehmenden wütend gemacht. Doch von vorne.

 

Lebensnahe Schilderung der Judenverfolgung

Ben erzählt der Anwältin Catherine seine Geschichte. Wir erfahren vom Leben im Polen, wie die Menschen, insbesondere die Juden, über das Radio die Nachrichten aus Deutschland verfolgen und schließlich bei Kriegsausbruch mitten in den Terror geraten. Immer wieder können Ben und seine Familie Hoffnung schöpfen, aber mindestens ebenso oft schlägt die Tragödie zu. Es ist spannend zu lesen, wie die Umstände in Polen zunehmend schlechter werden, wie einige mit offenen Augen sehen, was geschieht, während andere die Augen verschließen, weil sie es nicht verkraften, die Wahrheit zu sehen. Das Wissen um Konzentrationslager, die in einigen Fällen auch als Vernichtungslager gedient haben, das Wissen, absolut hilflos zu sein, lässt jeden Menschen anders reagieren. Das ist interessant dargestellt, auch wenn wir als Leser stets ein wenig auf Distanz gehalten werden.

Die Sprache dieser Vergangenheitsabschnitte ist recht kühl und vor allem ein Tatsachenbericht, weniger geprägt von Dialogen oder Emotionen. Dennoch gelingt es dem Autor, dem Leser Stück für Stück die absolute Hoffnungslosigkeit und die allumfassende Angst der Juden näherzubringen. Es ist unmöglich, aus Geschichtsbüchern wirklich zu lernen, wie schlimm die Dinge damals waren. Zahlen, Daten, Fakten, all das verwischt am Ende nur, wie unendlich das Leid war und wie unfassbar grausam das Böse. Obwohl auch dieses Buch nie wirklich emotional wird, kommt man doch viel näher an die Tragödie der Vergangenheit heran. Für diesen Teil der Geschichte würde ich vier Punkte vergeben.

 

Konstruierter Plot um flache, unglaubwürdige Charaktere

Dem gegenüber stehen die Geschehnisse der Gegenwart. Über Liam, einen Privatdetektiv und nahen Freund von Catherine, wird diese mit Ben bekannt gemacht. Für etwa die erste Hälfte des Buches sträubt sie sich dagegen, den Fall wirklich zu übernehmen. Sie betont immer wieder, dass sie keine Zeit hat, weil ihre Kanzlei sich um solche Fälle nicht kümmert und sie sich vor ihren Arbeitgebern verantworten muss für die Stunden, die sie mit Ben verbringt. Trotzdem hört sie ihm jede Woche für mehrere Stunden zu - der Konflikt ist also ohne jegliche Konsequenz, stört das Vorankommen und wirkt seltsam, da einfach keinerlei Motivation bei Catherine zu finden ist, warum sie überhaupt nach der ersten Sitzung noch weiter macht. Es gibt keine Motivation dafür. Dann, plötzlich, ist sie ergriffen von der Geschichte und will den Fall auf jeden Fall übernehmen, gegen alle Widerstände. Obwohl das Stück für Stück geschieht, ist die Motivation erneut nicht ganz klar. Sie scheint mitgenommen zu sein von der Tragödie, aber dem Autor gelingt es nie, mir als Leser irgendwelche Gefühle zu vermitteln.

Stattdessen wird die Erzählung von Ben regelmäßig für alltägliche Dinge unterbrochen, meistens von der Notwendigkeit, etwas zu essen. Es wird zum Ende hin beinahe lächerlich, wie oft wir erfahren, dass, was und wo sie essen. Zumal auch das keinerlei Konsequenzen für die Handlung hat und nichts zur Charakterentwicklung beiträgt. Diese findet nämlich generell nicht statt. Wir bekommen gesagt, dass Catherine so und so ist, aber wir sehen das nie in Handlungen oder Dialogen. Dass es schließlich Liam ist, der ihre private, intime Vergangenheit an Ben weitererzählt, ohne dass Catherine das weiß, und diese das dann, als sie es erfährt, nicht einmal schlimm findet, setzt dem ganzen die Krone auf. Keine dieser Figuren hat auch nur den Hauch eines Charakters. Sie alle sind nur offensichtliche Werkzeuge, um die Geschichte der Juden in Polen zu erzählen.

Besonders deutlich wird das zum Schluss, wo verschiedene, praktisch irrelevante Personen, die nur für einige Seiten erwähnt werden, die entscheidenden Hinweise für den Gerichtsprozess liefern, ohne dass Liam oder Catherine tatsächlich irgendeine Form von eigener Arbeit getan hätten. Fotos ex machina. Erinnerungen ex machina. Belastende Aussage ex machina. Die Dinge, die Liam für Catherine herausfindet, sind wiederum so offensichtlich und leicht zu bemerken, dass man sich fragen muss, warum nie zuvor jemand das bemerkt hat. Es ist einfach alles viel zu konstruiert. Ich bin zunehmend wütend geworden beim Lesen. Für die Handlung auf der Seite der Gegenwart würde ich am liebsten keine Punkte vergeben. 

 

Fazit

Der Roman "Hannah und ihre Brüder" von Ronald H. Balson überzeugt mit einer interessanten, authentischen Darstellung der Judenverfolgung in Polen zur NS-Zeit. Die darum herum gewobene Geschichte der Anwältin Catherine und des Prozesses gegen den reichen, einflussreichen Rosenzweig hingegen bleibt bis zum Ende platt, konstruiert und unglaubwürdig. Die Figuren bekommen leider nie eine Chance, einen echten Charakter zu zeigen oder zu entwickeln. Als historischer Roman über das Leiden der Juden in Polen funktioniert dieses Buch gut, doch die Rahmenhandlung enttäuscht massiv.