Rezension

Spieglein Spieglein an der Wand

Ein anderer Takt - William Melvin Kelley

Ein anderer Takt
von William Melvin Kelley

Bewertet mit 5 Sternen

Old fashion - und immer noch aktuell !

Kathryn Schulz, die ein hervorragendes Vorwort zu diesem, 1962 in den Staaten publizierten und fast vergessenen Roman „A Different Drummer“ verfasst hat, beschreibt seinen Inhalt so gut, dass ich sie zitieren möchte: „Der Roman spielt in dem kleinen Ort Sutton, nahe der Stadt New Marsails, in einem fiktiven, zwischen Alabama und Mississippi gelegenen Staat im Süden der USA.“ Dort verlassen eines Tages alle Schwarzen das Dorf, die Städte, den ganzen Bundesstaat.

LESEERLEBNIS:
Als ich dem Roman entlang las, dachte ich nicht, dass ich ihn schlussendlich mit fünf Sternen bewerten würde, denn er ist bar von schriftstellerischem Raffinesse, zumindest was seinen Stil angeht. Ja, der Roman hat, man kann es nicht verschweigen, erhebliche Längen und ich musste mich zunächst zwingen, am Ball zu bleiben. Für den Schluss jedoch gibt es Extrapunkte.

BESPRECHUNG:
„Ein anderer Takt“ lebt von seiner Thematik, ganz klar und ist Anklage gegen die Überheblichkeit, mit der Menschen einer hellen Hautfarbe diejenige einer dunklen für minderwertig deklarieren. Selbst für die aufgeklärtesten Geister von Sutton ist es eine Selbstverständlichkeit, dass ihnen „die anderen“ zuarbeiten, sie, die Weißen, aber das Sagen haben.

Der Leser muss, genau wie die weiße, verblüffte und empörte, Bevölkerung in aller Gemächlichkeit zusehen, was passiert und zuhören, wie die Weißen das Geschehen kommentieren. Dabei kommen alte Geschichten zu Tage.

DIE KRITIK:
Erstaunlich ist, wie „spät“ und doch auch wieder wie „früh“, der Afroafrikaner Kelley seine Stimme erhoben hat. 1962 ist lang nach den Sezessionskriegen und doch früh, weil Kelley weit in die Zukunft gesehen hat, wie lange es dauern wird, bis der Kampf vorbei oder gewonnen ist. Vielleicht nie.

1962 jedenfalls muss „A Different Drummer“ immer noch ein skandalträchtiges Werk gewesen sein. Der Autor hält einem beträchtlichen Teil der weißen Bevölkerung einen Spiegel vor das Gesicht. Und zwar nicht nur derjenigen von damals - und aus diesem Spiegel blickt eine Fratze zurück!

Hält man sich in Sutton doch für aufgeklärt, liberal und human. Man ist nett zu den Schwarzen. Man bezahlt sie, sogar einigermaßen gut, und besteigt die weiblichen Schwarzen nur noch mit deren Einwilligung. Man schätzt sie und gibt ihnen einen Platz in der Familie. Freilich, bei der Interessenabwägung, meine, deine (Interessen), ist es klar, wer zurücksteckt. Selbst bei den Anständigsten unter den Weißen, behält die Selbstbezogenheit und bornierte Blasiertheit die Oberhand.

Zitat: „Ich weiß, dass zerplatzte Träume oder jedenfalls weit aufgeschobene Träume bei Negern als beinahe normal gelten, dass sie zum Leben eines Negers zu gehören scheinen, dass Neger im Grunde fast nichts anderes erwarten“, lässt Kelley einen dieser Anständigen sagen im Brustton der Überzeugung und es will sich einem der Magen umdrehen.

Das Ende ist ein Showdown, der schockierend, aber erwartbar ist.
Was passiert, nachdem die Schwarzen weg sind, wird alledings nur angedeutet.

Fazit: Ein frühes Werk, das nicht die schriftstellerische Qualität hat, die ich eigentlich von einem Roman erwarte, das aber seine Zeit abbildet und ein bedeutender Beitrag zur Humanität ist. Er könnte gestern geschrieben worden sein und wäre genau so gültig wie 1962.

Kategorie: Politischer Roman
Verlag: Hoffmann & Campe, 2019