Rezension

Zeitenwechsel

Schatten der Welt - Andreas Izquierdo

Schatten der Welt
von Andreas Izquierdo

Bewertet mit 4 Sternen

Mit dreizehn Jahren habe ich mich endgültig von meiner Kindheit verabschiedet, allerdings musste ich noch weiter zur Schule gehen und durfte auch noch keine wichtigen Entscheidungen selbst treffen. Die große mobile Freiheit kam mit dem Führerschein, da war ich 18 und durfte auch das erste Mal wählen gehen. Ausgezogen bin ich zwei Jahre später nach dem Abitur, während des Studiums haben mich meine Eltern finanziell unterstützt. Als ich wirklich richtig unabhängig war, war auch der 30. Geburtstag nicht mehr allzu weit entfernt. In unserer Gesellschaft gibt es nicht nur theoretisch die Möglichkeit, sich Zeit zu nehmen, um erwachsen zu werden. Niemand erwartet zumindest von einem 13-jährigen Teenie, dass er mehr tut, als zur Schule zu gehen, sich mit seinen Freunden zu treffen, Sport zu treiben und ab und zu Unsinn zu verzapfen. Wenn es schlecht läuft, gehören erste Erfahrungen mit Alkohol und Drogen dazu. Carl und Artur haben keine Wahl. Für sie ist die Schule mit dreizehn vorbei und sie gelten als Erwachsene. Sie leben 1910 in Westpreußen, kommen aus einfachen, ärmlichen Verhältnissen und sind doch mit allen Wassern gewaschen. Besonders Artur hat einen guten Riecher für praktische Möglichkeiten Geld zu verdienen, Carl ist leichtgläubiger und eher künstlerisch veranlagt. Mit der Lehrerstochter Isi ist das Kleeblatt komplett. Die drei Freunde sehen voller großer Träume und viel Tatendrang in ihre Zukunft, doch dann bricht der 1. Weltkrieg aus und alles ändert sich.

Andreas Izquierdo lässt seine drei jungen Figuren mitten hinein in eine intensive historische Zeit erwachsen werden. Sie haben nur eine kurze Zeitspanne, um festzustellen, dass ihnen mit der richtigen Mischung aus Mut, Entschlossenheit und Klugheit die Welt offensteht. Dann wendet sich das Blatt durch den Ausbruch des Weltkrieges dramatisch und ums nackte Überleben kämpfen erhält eine ganz neue Bedeutung. Es sind nur acht Jahre Erzählzeit, doch Izquierdo hat sich genau die richtige Zeitspanne ausgesucht, um am Beispiel dieser jungen Menschen aufzuzeigen, woran Preußen zu Beginn des 20. Jahrhunderts krankte, wie ungleich die sozialen Verhältnisse waren. Wenige bestimmten über alle anderen, Frauen hat kaum Rechte, waren ihren Vätern oder Ehemännern ausgeliefert, durften nicht wählen, nicht mitreden. Die Herkunft bestimmte über die Möglichkeiten des Nachwuchses, je weiter oben die Familie in der Gesellschaft stand, desto besser waren die Chancen aufzusteigen. Je weiter unten die Familie ums tägliche Brot kämpfen musste, desto schwieriger wurde es, überhaupt den Anschluss zu halten. Izquierdo zeigt die Schatten der damaligen Welt auf. Es ist ein Querschnitt durch die preußische Gesellschaft und ein schwer zu ertragender Einblick in die Schrecknisse eines Krieges an der Front und darüber hinaus. Vielleicht schultert der Autor seinen Charakteren aber auch ein wenig zu viel, um möglichst viele Facetten der Zeitgeschichte unterzubringen. Erzählerische Freiheit, die ich ihm verzeihe, sonst wäre mit dem Ende manches Erzählzweiges wohl auch die Figur auserzählt gewesen. Carl hätte die Grundausbildung beim Militär nicht überlebt, Isi wäre vielleicht ermordet worden und Artur im Knast versauert. Das käme der Realität dann näher, ergäbe aber auch keinen ausgewogenen Roman. So trägt die Freundschaft von Isi, Carl und Artur als roter Faden durch die Zeit. Der Gedanke an die anderen hilft jedem einzelnen von ihnen durchzuhalten und nicht aufzugeben, eine gute Motivation auch für den mitfiebernden Leser. Carl ist die Erzählstimme, erzählt von sich, weiß auch von Artur und Isi. Dadurch ist man als Leser noch ein Stückchen näher dran und kann sich den Figuren kaum entziehen. Ein kluger Erzählschachzug, der bei mir gut funktionierte. Durch die wechselnde Perspektive wirkt die Geschichte sehr dynamisch und bietet einen guten Spannungsbogen. Der unvermittelt eintretende Schluss hat mich allerdings überrascht. Sollte es sich hier wohl um einen Cliffhanger handeln und ich mich also auf ein Wiedersehen mit Isi, Artur und Carl in Berlin freuen dürfen?