Rezension

Zwei suchende Seelen

Ein neues Blau - Tom Saller

Ein neues Blau
von Tom Saller

Bewertet mit 5 Sternen

1985. Die 18-jährige Anja Hermann hat es momentan nicht leicht, denn die Eltern streiten sich immer öfter und auch die Schule macht ihr zu schaffen. Da kommt ihr das Angebot eines Lehrers gerade recht, der ihr einen Job als Gesellschafterin seiner alten Mutter vermittelt. Anja hat keine großen Erwartungen, doch dann ist sie immer mehr von Lili Kuhn und deren Leben fasziniert, das nach und nach bei gemeinsamen Gesprächen an die Oberfläche kommt. Die Halbjüdin Lili Cohen wuchs im Berlin der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts auf. Nach dem frühen Tod der Mutter lässt der Teehändler Jakob seiner Tochter Lili eine liebevolle und wohlbehütete Kindheit angedeihen. Unterstützt wird er dabei durch seinen alten japanischen Geschäftsfreund Takeshi, der seinen Wohnsitz von Japan nach Berlin verlagert und Lili schnell ans Herz wächst. Viel später lernt Lili Günther von Pechmann, den Direktor der Königlichen Porzellan Manufaktur kennen, der sie in die Welt der Porzellanherstellung einführt, die einen Großteil von Lilis Leben bestimmen soll, bis die Nazis die Herrschaft in Deutschland übernehmen…

Tom Saller hat mit „Ein neues Blau“ einen wunderschönen historischen Roman vorgelegt, der Fiktion mit wahren Begebenheiten auf sehr gekonnte Weise miteinander verwebt. Der Schreibstil ist flüssig, berührend, intensiv und voller Poesie. Die Neugier des Lesers wird schon durch einen interessanten Prolog geweckt und lässt ihn eintauchen in zwei verschiedene Welten, denn der Roman bewegt sich auf zwei Zeitebenen, der eine spiegelt die Gegenwart um 1985 wieder, in der sich die junge Anja und die alte Lili kennenlernen. Die andere Ebene lässt den Leser an dem bewegten Leben von Lili teilhaben, dass mit den 20er Jahren und ihrer Kindheit beginnt. Der Autor versteht es sehr geschickt, den historischen Hintergrund und einige bekannte Größen in seiner Geschichte zu verankern und ihr damit noch mehr Glaubwürdigkeit und Authentizität zu verleihen. Mit seiner Themenauswahl bietet er einen interessanten Einblick in die japanische Teezeremonie, die Judenverfolgung während der Nazizeit sowie über die kunstvolle Herstellung von Porzellan. Durch die wunderbare und ruhige Erzählweise des Autors hat der Leser während der gesamten Handlung das Gefühl, mit den beiden Frauen in einem Raum zu sitzen und ihren Ausführungen persönlich  zu lauschen. Der Epilog birgt am Ende noch eine Überraschung, die das Buch so besonders werden lassen.

Die Charaktere sind sehr ausgefeilt und mit Persönlichkeit versehen. Individuelle Ecken und Kanten lassen sie lebendig und vor allem glaubwürdig wirken. Der Leser kann sich sowohl in Anja als auch in Lili hineinversetzen, was es ihm leicht macht, ihren Gedanken und Gefühlen zu folgen und sie auch nach der Lektüre noch für eine geraume Weile im Gedächtnis zu behalten. Anja ist eine sehr junge Erwachsene, die den damaligen 80er Jahren entspricht. Mit ihrer jugendlichen Aussprache, ihrem offenen und leicht frechen Wesen findet sie den Schlüssel zu Lilis Herz. Innerlich ist die junge Frau unsicher und zerrissen. Lili ist mit ihrem Alter schon gesetzt, erfahren und sehr zurückhaltend, denn sie hat zu viel gesehen und erlebt. Die Kombination zwischen Alter und Jugend ist reizvoll, da der Austausch ein gegenseitiges Lernen beinhaltet und auch ein gewisses Verständnis für die jeweils andere Seite hervorruft, wenn erst einmal Vertrauen gefasst wurde. Aber auch der Takeshi mit seinem Einfühlungsvermögen und Rabbi Teichlmann haben ihren berechtigten Auftritt in dieser Geschichte, die so intensiv wie fesselnd ist.

Mit „Ein neues Blau“ hat Tom Saller einen wunderschönen und eindrucksvollen Roman geschaffen, der sich nicht nur durch eine sehr gute historische Recherche und die Verflechtung von Fiktion und Wahrheit auszeichnet, sondern auch durch die Themenauswahl und die Schicksale, die er dem Leser näher bringt. Absolute Leseempfehlung für ein echtes Highlight!