Rezension

Beeindruckend raffinierter Psychothriller mit überraschendem Ende

Die stille Frau - A. S. A. Harrison

Die stille Frau
von A. S. A. Harrison

Bewertet mit 5 Sternen

Zerfall einer perfekten Fassade

Dieser großartige Debütroman der amerikanischen Schriftstellerin A. S. A. Harrison ist eine Qualitätsklasse für sich. Ich habe noch keine Geschichte gelesen, die auch nur ansatzweise diese literarische Durchschlagskraft hatte, obwohl sie sprachlich bewusst schlicht gehalten ist. Der bis ins Detail ausgefeilte Stil, der schleichend Hochspannung generiert, reflektiert das fundierte psychologische Verständnis der Autorin, der es brillant gelingt, die differierenden Gedankenwelten einer Frau und eines Mannes offenzulegen. Mit unaufgeregter klarer Sprache präsentiert uns Harrison die schleichende und schließlich explosive Entwicklung vom aufschlussreichen Beziehungsroman zum beeindruckend raffinierten Thriller, dessen völlig überraschende Wendung den Leser am Ende perplex zurücklässt. Die stille Frau ist ein Leseerlebnis der ganz besonderen Art, das man so schnell nicht vergisst, weil es mit Eindringlichkeit und profundem Wissen um die Abgründe der menschlichen Seele erzählt wird.

Beziehungsroutine

Oberflächlich betrachtet sind Todd Gilbert, erfolgreicher Architekt, und Jodi Brett, etablierte Psychotherapeutin, ein Traumpaar, dem es in seinem Luxusappartement in Chicago an nichts fehlt. Und dies soll - wenn es nach Jodi ginge - auch so bleiben, denn in ihrer geordneten Welt, in der geregelte Tagesabläufe ein Muss sind, ist kein Platz für Konflikte. Sie ist eine perfekte Hausfrau, die ihrem Mann jeden Abend das Essen stilvoll zubereitet und die trotz ihres beruflichen Engagements auch noch Zeit für ihr Fitnesstraining und Spaziergänge mit dem Hund findet. Alles in allem ist sie also eine Powerfrau, die einem Hochglanz-Frauenmagazin entsprungen zu sein scheint und die den heutigen Multitasking-Ansprüchen absolut gerecht wird.

Erste Risse

Doch unter der schönen Oberfläche brodelt es: Todds zahlreiche Seitensprünge, die er vor sich selbst als aufregende Ausbrüche aus seiner sicheren Beziehungswelt mit Jodi und als Heilmittel für seine Depressionen rechtfertigt, machen Jodi unterschwellig sehr zu schaffen, doch sie ignoriert sie, weil eben nicht sein kann, was nicht sein darf. Sie will auf jeden Fall vermeiden, wie ihre Mutter zu enden, die an der Untreue ihres Mannes zerbrach, und daher verhält sich Jodi angesichts Todds wechselnder Affären eben so, wie man sich in ihren Augen als moderne Frau verhält: Sie sieht großzügig darüber hinweg, weil sie ja weiß, dass er am Ende doch immer wieder zu ihr zurückkommt. Mit dieser Einstellung hält Jodi ihr Leben aufrecht und fährt damit ihres Erachtens auch sehr gut - bis sich das Blatt wendet und Todd die junge, verführerische Natascha kennenlernt, in die er sich Hals über Kopf verliebt, da sie so anders ist als seine bisherigen Geliebten. Er verfällt ihr mit Haut und Haar und schafft sich immer häufiger Freiräume für leidenschaftliche Stunden mit Natascha, die ihn mit ihrer Spontanität mitreisst und ihm die Illusion vermittelt, wieder jung zu sein.

Der Anfang vom Ende

Jodi gelingt es immer weniger, ihre Fassade als pflichtbewusste und tolerante Frau zu wahren, obwohl sie immer noch daran glaubt, dass sie für Todd nach dem Ende der Affäre wieder die Nr. 1 ist. Doch sie hat die Rechnung ohne Natascha gemacht. Als Natascha schwanger wird, ist Todd zunächst schockiert, doch schon bald muss er sich eingestehen, dass er stolz ist, Vater zu werden - ein Glück, das ihm mit Jodi stets versagt blieb. Natascha, die Todd zunehmend dominiert, drängt ihn, Jodi zu verlassen, wozu er sich tatsächlich auch überreden lässt, obwohl ihm die tägliche Routine mit Jodi immer ein Gefühl der Geborgenheit gab.

Jodi ist außer sich und kann nicht fassen, dass ihr alles entgleitet. Sie versucht krampfhaft, ihren Kontrollverlust zu kompensieren, bis dann auch ihre Toleranzgrenze endgültig überschritten ist: Todd willigt nicht nur ein, Natascha zu heiraten, sondern beansprucht auch noch das gemeinsame Luxusappartement für sich, das er angesichts wachsender Geldprobleme bedingt durch schlecht laufende Geschäfte und Nataschas aufwendigen Lebensstil verkaufen möchte.

Perfide Rache

Jodi denkt nicht daran auszuziehen, doch sie übersieht dabei einen wichtigen Punkt: Aufgrund der schlechten Ehe ihrer Eltern konnte sie sich nie dazu durchringen, Todds Heiratsantrag anzunehmen. Als ihr schlagartig bewusst wird, dass sie mit nichts dasteht, wenn Todd sie verlässt, verliert sie den Boden unter den Füßen. Doch ihre beste Freundin Alison schafft es, Jodis kontrollierte Fassade zu durchbrechen und rät ihr, Todd nicht ungeschoren davonkommen zu lassen. Jodi kann sich mit diesem Gedanken nicht anfreunden, aber sie ändert ihre Meinung, als Todd einen Anwalt beauftragt, um sie aus der Wohnung zu klagen - eine letztmalige Demütigung, die sie nicht mehr zu tolerieren bereit ist. Und so lässt sich Jodi auf Alisons perfiden Racheplan ein, der die Stützpfeiler ihres bisherigen Lebens endgültig einstürzen lässt. Sie wird in eine Spirale aus Gewalt und Verrat gezogen und entdeckt eine teuflische Seite an sich, die sie nie für möglich gehalten hätte...

Grandioses Psychoduell mit ungeahntem Ausmaß

Das fesselnde Psychoduell, in das Harrison ihre Protagonisten involviert, ist von äußerster Intensität. In den Kapiteln, die abwechselnd die Überschrift Sie und Er tragen, lässt die Autorin den Leser in die komplexen Gedankenwelten von Jodi und Todd eintauchen und offenbart ihm somit das Innerste ihrer literarischen Figuren. Dies ist Harrison mehr als eindrucksvoll gelungen. Ihren außergewöhnlichen Erzählstil verwendet sie jedoch nicht dazu, um für eine Seite Partei zu ergreifen. Sie hebt weder den moralischen Zeigefinger noch bewertet sie das Verhalten von Jodi und Todd. Somit überträgt sie dem unbeeinflussten Leser die Aufgabe, sich selbst ein Bild der handelnden Personen zu machen. Dies wird zu einem äußerst diffizilen, aber fesselnden Puzzlespiel, denn nach und nach offenbart Harrison dunkle Geheimnisse und wunde Punkte ihrer Protagonisten, die sie genau dann in einem neuen Licht erscheinen lassen, wenn der Leser meint, die Hauptfiguren ergründet zu haben. Diese psychologische Finesse macht den Roman so einmalig und unbedingt lesenswert.