Rezension

Ein bezauberndes Buch, das jeder lesen sollte

Lieber Mr. Salinger - Joanna Rakoff

Lieber Mr. Salinger
von Joanna Rakoff

Es gibt viele Gründe, warum ich es bedauere, dass ich nicht zur Leipziger Buchmesse fahren konnte. Einer davon war die Lesung von Joanna Rakoff. Nachdem ich ihr Buch gelesen habe, wäre ich ihr zu gern persönlich begegnet. Das ist bei mir eher ungewöhnlich, denn eigentlich interessieren mich hauptsächlich die Geschichten und nicht die Menschen dahinter. In diesem Fall verhält es sich anders, denn die Autorin erzählt eine Geschichte, die sie selbst erlebt hat. Sie erzählt von ihrem holprigen Jahr – frisch von der Uni – in einer Literaturagentur und wie sie dort J.D. Salinger kennenlernte. Eine Situation, die ich nur zu gut kenne und deshalb besonders interessant fand.

"Von ihnen gibt es Hunderte: blitzgescheite junge Frauen, frisch von der Uni und mit dem festen Vorsatz, in der Welt der Bücher Fuß zu fassen. Joanna Rakoff war eine von ihnen. 1996 kommt sie nach New York, um die literarische Szene zu erobern. Doch zunächst landet sie in einer Agentur für Autoren und wird mit einem Büroalltag konfrontiert, der sie in eine längst vergangen geglaubte Zeit katapultiert. Joanna lernt erst das Staunen kennen, dann einen kauzigen Kultautor – und schließlich sich selber."

Joanna schmeißt ihre Doktorarbeit in Englischer Literatur und möchte direkt in der Buchbranche arbeiten. Dabei ist ihr fast egal, was sie macht, hauptsache es geht um Bücher. Sie lässt sich in die Kartei einer Jobvermittlung eintragen und wird sehr spontan als Assistentin in einer Literaturagentur vorgeschlagen. Sie hat zwar überhaupt keine Ahnung, was sie dort erwartet, doch sie bekommt nach einem kurzen Bewerbungsgespräch den Job. Von nun an darf sie – recht antiquiert – auf einer Schreibmaschine die Diktate ihrer Chefin abtippen, Verträge überarbeiten und Fan-Post an die Autoren, die die Agentur betreut, abfangen und mit einem Standardbrief beantworten. Ihre Arbeit überfordert sie zunächst, doch mit der Routine kommen auch die tieferen Einblicke in das Agenturleben – denn hier heißt die Devise ‘Learning by doing’ und kaum einer hat Zeit ihr Dinge näher zu erklären. Zunächst fühlt sie sich völlig erschlagen und überfordert von ihrem neuen Leben: Eigene Wohnung, sehr selbstständiges und nicht immer logisches Arbeiten, finanzielle Verantwortung und Freundschaften, die auseinander brechen.  Joanna muss mit all dem gleichzeitig umgehen und dabei erwachsen werden.
Als sie erfährt, dass eigentlich der größte und wichtigste Autor der Agentur J.D.Salinger ist, kann sie zunächst nicht viel mit dem Namen anfangen. Natürlich weiß sie, wer er ist, doch hat sie selbst nie seine Werke gelesen. Entsprechend versteht sie die Euphorie, die Selbstoffenbarungen und die Anspielungen in der Fan-Post nicht, die sie täglich beantworten soll. Warum wenden sich diese Menschen mit ihren Problemen und Zweifeln an einen Autor, der seit Jahrzehnten kein eigenes Buch mehr veröffentlicht hat?

Salinger hat mit seinem “Fänger im Roggen” ein Werk geschaffen, dass den Nerv eines jeden Teenies zu treffen scheint. Generationen von Jugendlichen fühlen sich seinem Protagonisten und auch Salinger dadurch nah. Es ist nicht verwunderlich, dass sie sich dem Autor mitteilen und sich mit ihm über seine Bücher austauschen wollen. Sehr viele Leser denken, dass sie in Salinger eine Art Seelengefährten gefunden haben. Einen Menschen, der genauso denkt und fühlt, wie man selbst.
Für Joanna ist das zunächst ein etwas irritierendes Phänomen – denn sie kennt zum einen die Bücher Salingers nicht und zum anderen hat sie noch keine Erfahrungen im Literaturbetrieb. Vielleicht werden viele Autoren mit solchen Briefen und sehr intimen Offenbarungen bestürmt? Sie weiß es nicht und sieht in den vielen Schreiben, die täglich auf ihrem Schreibtisch langen Hilferufe, Wünsche nach Antworten, aber hauptsächlich Gesprächsangebote. Ihr wird gesagt, dass sie die Briefe niemals an Salinger weiterleiten  soll und auf keinen Fall mehr als den Standardtext schreiben darf. Doch einige Briefe gehen ihr einfach nicht mehr aus dem Kopf und sie beginnt Antworten zu formulieren. 

Wie gesagt, trifft “Der Fänger im Roggen” genau den Ton eines bestimmten Lebensabschnitts, beschreibt Orientierungslosigkeit und die langsame Loslösung von der Kindheit auf dem Weg zum Erwachsensein. Schaut man sich die Autorin an, ist sie zwar bereits einige Jahre älter als der Protagonist von Salingers Buch, doch befindet sie sich genau an diesem Punkt der Orientierungslosigkeit in ihrem Leben. Das Studium verlängert die Zeit der Jugend, man hat viele Freiheiten und wenig (sehr verschulte) Pflichten. Mit dem Abbruch ihrer Promotion tritt sie in die erwachsene Arbeitswelt ein. Ihre Eltern, die sie viele Jahre unterstützt haben, sie vielleicht sogar ein wenig verhätschelt haben, lassen sie nun den Wechsel deutlich spüren. Sie bekommt von ihnen die Rechnungen ihrer Kreditkarten und soll nun ihren Studienkredit selbst abzahlen. Zugleich befindet sie sich in einer sehr naiven und bewusst den Eltern verschwiegenen Beziehung mit einem egozentrischen Wahlkommunisten, der nicht wirklich viel zum gemeinsamen Haushalt beisteuert. 
Die Erwachsenenwelt trifft sie ziemlich unsanft.

In diesem Buch beschreibt die Autorin ein unheimlich wichtiges Jahr in ihrem Leben. Sie muss sich selbst und zugleich den holprigen und manchmal sehr frustrierenden Weg in die Arbeitswelt finden. Sie muss für sich selbst Entscheidungen treffen und Verantwortung übernehmen. Nach dem Studium ist das eine Zeit, die für Viele nicht leicht ist. Der Literaturbetrieb ist außerdem ein Sehnsuchtsort für viele Geisteswissenschaftler – tausende drängen dorthin.  Joanna Rakoff erzählt sehr uneitel und selbstkritisch von dieser Zeit, von ihren Wünschen, Fehlern und wie die Literatur immer ein wichtiger Fixstern auf ihrem Weg war. Als sie Salinger und schließlich seine Werke kennen lernt, findet sie zu sich selbst und wächst über sich hinaus. Das Buch zeigt, wie wertvoll Literatur ist und was sie einem geben kann.

Fazit

Liebe Miss Rakoff, vielen Dank für dieses ehrliche und unterhaltsame Buch über die orientierungslose Zeit zwischen Studium und Beruf. Ich konnte mich und all meine Kommilitonen in ihren Erzählungen wiederfinden. Die Einblicke in den Literaturbetrieb und in den Berufsalltag einer Literaturagentur waren erhellend. Ich bin mit ihnen verzweifelt, war verwirrt, frustriert, wagemutig, stolz und manchmal einfach im richtigen Moment zur Stelle gewesen.
Ich danke Ihnen, dass sie dieses rasante Jahr mit allem positiven und negativen mit mir geteilt haben. 

Ihre Mareike