Rezension

Eine aufrichtige und berührende Geschichte voller magischer Momente

Tage mit Leuchtkäfern - Zoe Hagen

Tage mit Leuchtkäfern
von Zoe Hagen

Bewertet mit 5 Sternen

“Ich fühle mich leer. Und einsam. Wahrscheinlich ist es genau das. Ich fühle mich so unglaublich einsam. Deswegen sitze ich in dem Badezimmer eines leeren Hauses und kotze und weine.” (Seite 8) Diese Rezension muss ich mit einem Zitat aus dem Buch beginnen, da ich sonst das Gefühl habe, diesem Buch nicht auch nur ansatzweise gerecht zu werden. “Tage mit Leuchtkäfern” ist ein dünnes Werk in Form eines Tagebuchs. Einige Seiten sind nur halb beschrieben. Es lässt sich rasch lesen. Doch es ist nicht zu unterschätzen, denn in jedem Satz steckt die geballte Kraft von Emotionen – mal mit Mühe zurückgehalten, mal regelrecht herausgeschrien.

Gandhi, so wird die Protagonistin von ihren Freunden getauft, schreibt an Gott. Nicht unbedingt an den Gott, den wir aus der Bibel kennen. Vielmehr steht Gott für sie für die Kraft, die alles zusammenhält. In ihren Einträgen driftet Gandhi immer wieder in Erinnerungen ab, von denen sie bruchstückhaft erzählt. Der Leser hüpft wie auf einem Puzzle von einem Puzzleteil zum nächsten, erlebt Fragmente ihres Lebens und baut sich daraus ein Bild. Das Spannende daran ist, dass jeder es sich wahrscheinlich etwas anders zusammenbauen wird.

Mich hat vor allem überrascht, dass dieses dünne Buch von einer noch dazu so jungen Autorin schon auf 20 Seiten mehr Tiefgang hat, als so manche andere Bücher auf 200 Seiten nicht. Wir begleiten Gandhi ein dreiviertel Jahr ihres Lebens mit der Krankheit. Über den Beginn und vor allem die Ursache der Krankheit erfahren wir wenig – sie ist einfach da. Schwerpunkte bilden das Verhältnis zu ihrer Mutter und natürlich zu ihren neuen Freunde.

Durch Zufall lernt sie Fred kennen, der sie spontan zu sich nach Hause einlädt. Diese Wohnung und seine Freunde werden schnell zu Gandhis Refugium, zu einem Strohhalm, der sie über Wasser hält. Die Freunde geben sich gegenseitig Halt. Es ist eine beinahe zu perfekte Traumwelt, was jedoch zur Stimmung des Buches passt. Denn wir rücken in der Erzählung von der “realen Welt” ab und begeben uns in die Sicherheit dieser neuen Welt, in der alles in Ordnung ist.

“Tage mit Leuchtkäfern” birgt keine Überraschungen, die Geschichte empfand ich als vorhersehbar. Das ist jedoch einerlei. Das Erlebte von Gandhi und ihren Freunden ist gleichzeitig traurig und hoffnungsvoll. Lässt man sich darauf ein, kann man jedoch nachspüren wie es ist, ständig Angst zu haben: Angst vor Glücksgefühlen, weil sie vergänglich sind. Angst vor der Einsamkeit. Angst davor, verrückt zu sein. Angst vor dem Sterben. Angst, dass man irgendwann mal solche Angst hat, dass man nicht mehr leben möchte.

Schreibstil

Die Tagebuchform erlaubt einen ganz intimen Einblick in die komplizierte und wankelmütige Psyche von Gandhi. Zoe Hagen wählt für ihre Protagonistin offene Worte und beschreibt ganz rundheraus wie es ist, an Bulimie zu leiden. Dabei schafft sie es, mit wenigen Worten treffend die belastende Gefühlsspirale, in der Gandhi gefangen ist, zu beschreiben.

Was mir sehr gut gefallen hat, sind die vielen Momente des Innehaltens. Zoe Hagen konzentriert sich auf die kurzweiligen Momente und erzielt mit kleinen Sätzen große Wirkung.

“Es tut gut, die Kälte zu spüren”, sagte ich. “Zu spüren, wie der Körper taub und kalt wird. Denn innen, innen ist er es schon längst.” (Seite 59)

Neben allem Positiven, was ich zu diesem Buch sagen möchte, gibt es ein Detail – nur ein winzig kleines -, das mich jedoch maßlos gestört hat: das ständige Zwinkern von Gandhis Freunden. Fast auf jeder Seite wird ein Scherz gemacht und gezwinkert. Himmel. Ich reagiere inzwischen so allergisch darauf, dass es mir sogar in meiner aktuellen Lektüre negativ auffällt. Und darin wurde bisher nur ein Mal gezwinkert.

Charaktere

Die Freunde Noah, Fred, Amira, Lynn und Fabien halten zusammen. Sie stützen sich gegenseitig und helfen auch Gandhi. Sie alle haben Dinge erlebt, die dazu führten, dass sie sich das Leben nehmen wollten. Nichtsdestotrotz – oder gerade deswegen? – sind sie äußerst humorvoll, liebevoll, durchgeknallt und lebensfroh und versuchen, ihre Last zu tragen.

Die Charaktere sind sehr unterschiedlich, allerdings sind nicht alle detailliert herausgearbeitet. Noah, der Poet, und Fred, mit seinem Liebeskummer, stechen aus der Masse besonders hervor. Den besten Bezug hatte ich zu Noah, der mich zudem an Neil aus “Der Club der toten Dichter” erinnerte – eine Figur, die ebenso philosophisch, sensibel und konsequent ist.

Die Freunde sind für die Geschichte jedoch am ehesten als Gesamtheit zu betrachten. Eine Gemeinschaft, die etwas Flüchtiges und Weltfernes an sich hat. Sie gibt Gandhi Halt und ist für sie da, solange es notwendig ist.

Fazit

Bücher über Bulimie sind wichtig, da sie über diese ernste Krankheit aufklären. Dieses Buch aber ist meines Erachtens besonders wichtig, da es vor allem den Gefühlszustand einer betroffenen Person mal sensibel, mal sachlich, düster und hoffnungsvoll – also in all seinen Facetten – beschreibt. Dabei findet Zoe Hagen berührende und aufrichtige Worte, ohne Kitsch, aber voller magischer Momente.