Rezension

eine wirklich außergewöhnliche Märchenadaption

Marmorkuss - Jennifer Benkau

Marmorkuss
von Jennifer Benkau

Inhalt:
Jarnos Leben ging schon vor einer Weile in die Brüche. Sein Vater ist ein Trinker, seinen Ausbildungsplatz hat er verloren. Nun hält er sich mit Jobben über Wasser und versucht, seinem Traum näher zu kommen. Mit dem perfekten Foto, der Eintrittskarte zu einem Ausbildungsplatz als Fotograf.
Dafür riskiert er viel, doch das perfekte "Modell" findet er in einer verlassenen Villa: eine Steinskulptur, die zu leben scheint.
 
Klara kämpft für ihre Unabhängigkeit, für ein kleines bisschen Freiheit. Kann sie nicht einen Ehemann haben und trotzdem Lehrerin werden?
Plötzlich taucht diese Frau auf, scheint sie zu verfolgen. Denn Klara hat ein Geheimnis, das sie nicht einmal ihrem heimlichen Verlobten erzählen kann... Und die Frau schreckt nicht einmal davor zurück, diesem etwas anzutun, um zu erreichen, was sie will: Klaras Leben.
 
Meinung:
Eine Märchenadaption von "Dornröschen" von Jennifer Benkau? Da konnte ich mich nicht lange fernhalten. Kaum war "Marmorkuss" bei mir eingetroffen, rief es mich zu sich.
 
In einfachem Ton machte mich die Autorin mit ihrem Protagonisten Jarno bekannt, dem das Leben so einige Hürden in den Weg gestellt hat. Unverschuldet hangelt er sich am Existenzminimum herum, versucht nebenbei, das "perfekte Bild" zu schießen, um seinen Traum von professioneller Fotografie zu verwirklichen. In einem verlassenen Haus findet er das perfekte Motiv: die Statue einer Frau, deren Ausdruck sich zu wandeln scheint... die beinahe lebendig erscheint.
Ein Gelegenheitsjob macht ihm das Leben plötzlich zur Hölle. Er verliert alles, was ihm eine bessere Zukunft ermöglicht hätte. Doch Jarno lässt sich nicht unterkriegen. Mit der billigen Kamera seines Freundes wagt er einen Versuch, "sein" Motiv aufs Bild zu bannen. Doch bei der Suche nach dem perfekten Licht stürzt die Statue auf ihn - ein unerwarteter "Kuss", ehe Jarno ohnmächtig wird - und die Statue verschwunden ist.
 
Klara will alles: einen Ehemann, Lehrerin sein. Doch das ist für sie unmöglich. Als eine blonde Frau sie verfolgt, alle um Klara herum beeinflusst, gibt es für Klara nur eine Möglichkeit: Sie muss fliehen. Doch soweit soll es nicht kommen.
 
Jennifer Benkau erzählt Marmorkuss anfangs in wechselnder Perspektive aus Jarnos und Klaras Sicht. Jarno im personalen Stil, Klara in Ich-Perspektive. Schnell wird klar, dass Klara nicht in unserer Zeit lebt. Die Umstände, die "Vorschriften" und die Sprache sind zu speziell. Im krassen Gegensatz zu Jarno, der vor allem die negativen Aspekte unserer Zeit auf tragische Weise verkörpert. Beide Charaktere sind in einem Leben gefangen, von äußeren Vorgaben eingeschränkt. Jennifer Benkau versteht sich darin, dieses Gefühl zu transportieren. Wie eng die Verbindung und die "Leiden" der beiden zusammenhängen zeigt die Autorin eindrucksvoll, wenn die beiden Gegenseitig ihre Sätze vervollständigen. Unaufhaltsam streben die beiden Zeitlinien aufeinander zu. Die Frage ist nur, wann genau Klara zu ihrem gegenwärtigen Pendant wird und wie.
 
So schafft Jennifer Benkau eine Atmosphäre, die mitreißt, obwohl sie nicht von Spannung geprägt ist. Nach dem nahezu magischen Zusammentreffen der beiden wird es etwas ruhiger und weniger bedrohlich... Zeit für das gegenseitige Kennenlernen und für Nachforschungen. Hier hätte ich mir etwas mehr an Tempo gewünscht, kurze Momente, die die Bedrohung wieder gegenwärtig machen und nicht nur "Hirngespinsten" zu entspringen scheinen. Ab "Teil II" des Buches gibt es auch keine Ich-Perspektive mehr, dafür bekam ich einen kurzen Einblick auf die dunkle Seite, von der ich gerne noch mehr erfahren hätte, ehe die Geschichte dann ruhiger wurde. Dennoch verfolgte ich auch diesen Teil des Buches gerne, ehe Jennifer Benkau zum Endspurt ansetzte und den Bogen zur Vergangenheit zog.

Jennifer Benkaus ganz besondere Interpretation des "schlafenden Dornröschens" konnte mich überzeugen. Einzelne Elemente zeigen durchaus Parallelen zu dem Original, selbst das Wachküssen bleibt erhalten. Der Märchenprinz ist vielleicht etwas andere als gewohnt und die Autorin zeigt in ihrem gewohnt bildhaften und doch "nüchtern", nahezu bedrückend wirkenden Stil die Probleme auf, die ein so langer "Schlaf" unweigerlich mit sich bringt - und die im Originalmärchen unter den Teppich gekehrt werden. Gleichzeitig schafft sie mit ihrem männlichen Hauptcharakter Jarno ein Sinnbild für die oftmals verbaute Zukunft der derzeitigen Jugend.

Gewalt ist in "Marmorkuss" alles andere als selten. Die grausame Realität, wenn man an die falschen Menschen gerät. Nüchterne Brutalität, die Jennifer Benkau mit einer kühlen Art beschreibt, die Jarnos Leben noch grausamer macht.
Für einen kurzen Moment nach dem Lesen dachte ich, ohne die extremen Konflikte, den tiefen Sumpf, in den Jarno hineingezogen wurde, hätte mir die Geschichte besser gefallen. Ich empfand es beinahe too much. Doch aus solchen tiefen Sümpfen steigen Helden empor - und die braucht doch jedes Märchen, oder?
 
Mit dem Ende hat sich die Autorin nicht ganz an das "All-Over-Happy-End" des Märchens gehalten, was auch mehr als unpassend gewesen wäre. Nach einem actionreichen Showdown entließ sie mich dennoch beruhigt aus der Geschichte.
 
Urteil:
Jennifer Benkaus "Marmorkuss" ist mehr als eine gewöhnliche Märchenadaption. Hinter dem wunderschönen Cover verbirgt sich eine ganz besondere Romanze mit Zeitreisefeeling. Über die kleineren Längen und den ruhigeren Mittelteil konnte ich dank des nervenaufreibenden Showdowns (es schadet nie, vom Schlimmsten auszugehen) und des äußerst passenden Endes hinwegsehen. Sehr sehr gute 4 Bücher für Jarno und Klara.
 
Wer sich schon immer gefragt hat, wie die Realität nach einem über 100-jährigen Schlaf aussieht, sollte sich Marmorkuss nicht entgehen lassen...

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