Rezension

Die Zeichen deuten

Das Lied des Propheten -

Das Lied des Propheten
von Paul Lynch

Bewertet mit 5 Sternen

Der Alltag brach, als Eilishs Mann verschwand. Er war Gewerkschaftsekretär und sollte sich für ein paar Fragen bei der neu gegründeten Garda National Services Bureau, kurz GNSB melden. Seit die National Alliance Party an die Macht gekommen ist, verschwinden nicht nur Menschen in Irland, sondern auch Gewissheiten. Eine Anklage gegen Larry gab es nicht, sein Aufenthaltsort ist allenfalls ein Gerücht.
Eilish hat 4 Kinder, die sie nun neben ihrem Beruf als Mikrobiologin allein versorgen muss, der noch 16jährige Mark, Molly und Bailey im besten Pubertätsalter und Nachzügler Ben, der gerade erst das Laufen lernt.
Eilish redet sich ein, dass sich das Missverständnis einer Verhaftung und Inhaftierung schon klären wird. Aber die Unruhen im Land nehmen zu, die Nachbarn beäugen sich gegenseitig misstrauisch, Demonstrationen werden gewaltsam aufgelöst und dann steht da die Einberufung Marks zum Militär ins Haus, der eigentlich seine Schule noch beenden und dann studieren wollte.
Wir gehen mit der Familie Stark durch eine unruhige und sich zuspitzende Zeit von Grenzschließungen, Lebensmittelverknappungen, Stromsperren und Eilishs Jobverlust, als dann mit den Schulschließungen endgültig die Lage im Land eskaliert.
Mark entzieht sich der Einberufung, eine Flucht zu Eilishs Schwester nach Kanada ist geplant. Aber kaum hat sich Eilish aus iherer Lähmung befreit, ist es für nächste Schritte auch schon zu spät. Ihre Kinder hingegen positionieren sich eindeutiger, selbst der zunehmend dement werdende und auf Hilfe angewiesene Großvater sieht in seinen klaren Momenten die Gefahren, die auf die Familie zukommen.

Mit seinem Setting bleibt Lynch im intimen Raum der Familie, eigentlich ganz bei Eilish, ihren Beobachtungen, ihren Gedanken. Sie sieht die Zeichen, sie bemerkt die Veränderungen, sowohl bei ihren Kindern, als auch bei ihren Kollegen, ihren Nachbarn und Freunden. Sie fühlt sich weitgehend hilflos, gebunden bei ihren Kindern und ihrem pflegebedürftigen Vater. Jeder Versuch eines Widerspruchs, einer Auflehnung, der lebensrettenden Flucht kommt Lynch mit der gnadenlosen Deklination der Schrecken eines allesbestimmenden Staates zuvor.

Dieser Roman ist keine Dystopie im klassischen Sinne, es ist vielmehr der Aufruf zur Wachsamkeit, wenn Staaten sich nicht mehr an ihre eigenen Gesetze halten, wenn Notstandsverordnungen ein geregeltes Leben verunmöglichen und niemand sich seines Lebens mehr sicher sein kann. Die hier aufgeführten Mechanismen zur Unterwerfung der Bürger, kennen wir aus den Geschichtsbüchern, das bespielte Land ist uns aus Straßenschlachten um den wahren Glauben bekannt und tägliche Nachrichten verifizieren uns die Willkür der staatlichen Executive.

So poetisch Lynchs Sprache, so tief sind die Abgründe in die er uns hineinschauen lässt. Das Cover versinnbildlicht mit seinen scharfen Kanten und spitzen Winkeln die Verletzlichkeit einer vermeintlichen Sicherheit der Heimstatt, bis zu den bedrohlich augengleichen roten Fenstern. Eike Schönfeld übersetzte diese Klavaitur des Schreckens mutig und kraftvoll.

Nach der Lektüre fühlte ich mich betäubt, die Worte hallten nach und entfalteten nach und nach ihre Wirkung. Keine leichte Kost, keine gute Unterhaltung, vielmehr ein lauter Warnruf über all die Veränderungen in unserer Welt. Auf das uns das prophetische Lied den richtigen Weg weist!

Kommentare

wandagreen kommentierte am 12. August 2024 um 22:38

"verschwinden nicht nur Menschen in Irland, sondern auch Gewissheiten." Eine sehr gute Formulierung. Jedoch finde ich solche Worte wie "verunmöglichen" unmöglich. Vllt muss ich mich damit abfinden mit diesem Neudeutsch ;-). Es gefällt mir nicht. Wiederum: doch 5 Sterne? Damit hab ich nicht gerechnet bei dir. Wir mussten ziemlich kämpfen  mit dem Text, gell?