Rezension

Die unterschiedlichen Lebenswege von Carl und seinen Eltern nach der Wende

Stern 111 - Lutz Seiler

Stern 111
von Lutz Seiler

Bewertet mit 3 Sternen

Und der Leipziger Buchpreis geht 2020 an … Lutz Seiler mit 'Stern 111'. Er hat den Preis und ich das Problem, denn ich muss nun dieses Buch, das so vielen gefällt, aber mir nicht, rezensieren.

Der Inhalt ist schnell erzählt: Carl, einziger Sohn von Inge und Walter Bischoff aus Thüringen (Nähe Gera) begibt sich nach dem Mauerfall nach Ostberlin und gerät dort in Hausbesetzerkreise, die ihn wohlwollend aufnehmen. Seine Eltern dagegen haben ihr angestammtes Leben, ihr Haus und die Nachbarn verlassen und sind in den Westen aufgebrochen. Mehrfach wird angedeutet, dass sie ein Geheimnis haben, einem Lebenstraum nachspüren und ihn jetzt, nach so vielen Jahren, verwirklichen wollen. Ihr Sohn weiß nichts davon und auch der Leser nicht, der es erst am Ende erfährt. Das bringt wenigstens ein bisschen Spannung in dieses handlungsarme Buch, erschien mir aber ziemlich weit hergeholt.

Es ist nicht so, dass ich viel Action in einem Buch brauche, nicht in einem literarisch anspruchsvollen Roman und das ist dieser ohne Zweifel von der Sprache her. Aber wenn wenig passiert, muss es anderes geben, das den Leser bei der Stange hält und ich habe da leider für mich nichts gefunden. Die tiefgründige Sprache allein reicht mir nicht.

Carl in der Hausbesetzer-Szene, dieser ach so fremden Welt, Carl und die Frauen, oder eher nur eine, das ist in vielen kleinen Episoden erzählt, die mir leider so wenig sagen, die mich nicht zum Nachdenken anregen oder mir irgendetwas geben. Die meisten Szenen fand ich langweilig, Carls Leben erbärmlich und seine Bestrebungen unrealistisch. Er will Lyriker sein und werden, er will Gedichte schreiben und veröffentlichen. 'Nur ein Prosamann' (147) will er nicht sein, schade, denn seine Briefe an die Mutter zeugen von seinem erzählerischen Talent. Er beurteilt sich selbst in den Augen der Eltern so:

'Ein haltloser Typ, der in obskuren Kreisen verkehrte.' (453) und es zu nichts bringt. Wenn er damit glücklich wäre ... ist er aber nicht. Er kommt mir wie ein Suchender vor, der am Ende des Buches immer noch nichts gefunden hat. Auch seine Eltern erfahren nichts über ihn, sein Leben, seine Niederlagen und Enttäuschungen.

Im Ganzen bleibt Carl für mich sehr distanziert und seine Eltern erst recht. Aus dem Klappentext entnimmt man fälschlicherweise, dass es um Familienzusammenführung geht. Von Inge und Walter erfährt man zwar einiges, aber nicht genug und auch das sehr distanziert, obwohl doch gerade ihr Werdegang in dem ihnen unbekannten Westen sehr interessant ist bzw. gewesen wäre. Aus ihrem neuen Leben erfahren wir hauptsächlich durch viele Briefe, die Inge an ihren Sohn schreibt.

Es gibt einige interessante Stellen, meist Carls Gedanken:

'Er wiederholte den dümmsten Satz in seinem Kopf … weil das Dümmste immer oben schwimmt im Schädel.' (75) – 'Er folgte dem Vorschlag, den das Leben machte.' (122) oder die poetische Beschreibung von trocknendem Putz (140).

Doch letztendlich konnte mich das Buch weder fesseln noch begeistern, weil ich nicht verstehe, worum es überhaupt geht, welche Aussage darin steckt oder weil sich diese mir nicht erschließt.

Kommentare

gst kommentierte am 16. April 2020 um 09:37

Gut erklärt, warum Dir das Buch nicht gefallen hat. Erstaunlich, dass Du trotzdem drei Sterne (nicht schlecht) vegeben hast!

Federfee kommentierte am 16. April 2020 um 12:16

Es wäre von meinem Gefühl her nicht richtig gewesen, dem Buch nur 2 Sterne zu geben. Ich habe da einen Unterschied gemacht zwischen meinem subjektiven Empfinden (dann eher 2 Sterne) und einer eher objektiven Beurteilung, weil ich die literarische Qualität erkenne und anerkenne.