Rezension

Ein Sprachmeister

Alte Sorten - Ewald Arenz

Alte Sorten
von Ewald Arenz

Bewertet mit 5 Sternen

Man wird als Leser sofort in einen Sog gezogen - ein großer sprachlicher/metaphorischer Wurf

Dieses Buch ist ein Sog, in den man unmittelbar hineingezogen wird. Die pubertierende, labile Sarah, genannt Sally (17), entweicht einer Therapieklinik und landet auf dem Bauernhof der Endfünfzigerin Elisabeth, genannt Liss. Liss nimmt Sally auf und die beiden verbringen einige Wochen miteinander. Der Kontrast zwischen den beiden Frauen, die beide auf der Flucht sind, Verletzungen in sich tragen und auch ihre Geheimnisse haben, könnte nicht größer sein. Liss, die scheinbar Freie, Autonome und Sally, die Gefangene, die Fremdbestimmte. Der Entwicklungsroman zeigt, dass beide beide Facetten in sich tragen. Liss fühlt sich unnütz, Sally unfrei, nicht angenommen und unverstanden. Zwischen den beiden ungleichen Protagonistinnen wächst eine Freundschaft und sie sind sich gegenseitig Halt und Bereicherung: “Das Mädchen machte, dass ihre Tage länger wurden und nicht mehr so unbemerkt verflogen” (37). “Es war ein guter Ort” (Sally, 17). Liss schlägt jede Psychotherapeutin um Längen, denn aufgrund ihres Charakters, ihrer Reife und ihrer Lebenserfahrung lässt sie Sally sein, wie sie ist, ohne sie zu gängeln oder zu verbiegen. Zunächst geht Liss allein weiter ihrer Arbeit nach. Sally empfindet sie als “strange” und “cool” und sie ist von ihr fasziniert. Da geht es Liss nicht anders. Mit Bewunderung stellt sie fest, wie interessiert und wissbegierig die jungen Dame ist, wie schnell sie lernt und mit anpackt, ohne dass man ihr lange etwas erklären muss. Liss trägt ein Geheimnis in sich, was Sally unbedingt knacken “möchte”. Streckenweise wird man nur aufgrund der Geschichte an abgelegene Erziehungsheime für schwer erziehbare Kinder erinnert, von denen manchmal im Fernsehen berichtet wird. Aber Arenz Geschichte und sein Roman sind  ein ganz anderes Kaliber: Menschlich und literarisch wertvoll. 
Ich habe zu Arenz Roman gegriffen, weil ich zuvor mit großer Freude der “große Sommer” gelesen hatte. Was mich immer wieder fasziniert, ist auch der Sprachstil. Man merkt dem Mann an, dass er Literatur studiert hat, dass er Lehrer ist, über Empathie verfügt und sich in andere Wesen hineinversetzt, sie beobachtet. Ohne jetzt irgendein Klischee bedienen zu wollen, beeindruckt mich, wie Arenz sich in die Gefühlswelt weiblicher Wesen hineinversetzen und sie beschreiben kann. Über wieviel Phantasie und auch landwirtschaftlicher Fachkenntnis (Weinbau) er verfügt (Ggf. wird er natürlich recherchiert haben). Er bedient sich vieler literarischer Stilfiguren. Besonders auffällig ist natürlich die ganze Metaphorik seines Romans und seiner Sprache: “Sommerwasser” (5), “...ihre Gedanken waren zäh wie kalter Honig” (82) und “Sie bewegten sich beide immer noch vorsichtig. So, als wären sie lange über das zugefrorene Eis eines Sees gelaufen, das Sprünge bekam und knisterte, wenn man zu forsch auftrat (zur Beziehungsbeschreibung, 225)”. Die größer Metapher überhaupt ist die Natur, die immer wieder zu menschlichen Vergleichen herangezogen wird. Anaphern: “Niemand lief ihr hinterher. Niemand verfolgte sie. Niemand war in ein Auto gestiegen...”(5). Personifizierung “...müde Wasserstrahlen...”(8). Beeindruckend sind auch die Sprachregister, der deftigen bis fäkalen Sprache, der sich Sally vor allem anfangs bedingt, um einerseits den Kontrast zwischen den Frauen auch sprachlich darzustellen, andererseits der verzweifelten Wut ein Gesicht zu geben: A....loch, “Scheißlandschaft” (6). Show don't tell: “Die Einrichtung war so, dass man sie sofort vergaß, wenn man die Küche verließ (15)”. Für mich ist Arenz ein verbaler und literarischer Beschreibungsmeister: “Das Schweigen um sie wurde tiefer, aber nicht schwerer (47)”.
Gut gefällt mir, dass jedem Tag im September ein Kapitel gewidmet wird, analog einer Tagebuchaufzeichnung. Das Cover passt und die Birne, die Sally so gut schmeckt, könnte auch ein Symbol für Liss sein. 
Resumée: ein großer metaphorischer und sprachlicher Wurf, der gegen Ende hin zudem auch noch ziemlich aufregend und spannend wird. Tiefschürfend.
Themen: Frauen. Frauenfreundschaften. Einsamkeit. Ankommen. Freiheit. Gefangenschaft. Verbiegen vs. leben und leben lassen. Natur. Weinbau. Verzweiflung. Pubertät. Labilität. Flucht. Ritzen. Magersucht. Depression. Drogen. Geheimnisse. Verletzungen. Nähe-Distanz.Glück. Perspektivenwechsel.Zugehörigkeit. Das Leben.