Rezension

Still, leise, doch mit großer Kraft

Alte Sorten - Ewald Arenz

Alte Sorten
von Ewald Arenz

Bewertet mit 5 Sternen

Sally ist siebzehn Jahre alt und wütend. Wütend auf die Welt, auf ihre Eltern, Lehrer und vor allem auf alle Sozialpädagogen, die sie therapieren wollen. Kurzentschlossen flieht sie aus einer Klinik, in der sie in den letzten Jahren viel Zeit verbrachte, ohne zu wissen wohin. Irgendwo auf einer Landstraße, die sich durch Weinberge schlängelt, trifft sie auf Liss. Liss' Anhänger hat sich festgefahren und nun braucht sie Hilfe, um ihn wieder an den Traktor zu koppeln. Sally hilft ihr und Liss bietet daraufhin an, sie ein Stück mitzunehmen. Eine folgenreiche Begegnung, denn es werden mehrere Wochen, in denen Sally bei Liss wohnt und ihr hin und wieder bei der Landarbeit hilft. Liss stellt keine Fragen, nimmt gelegentliche Wutausbrüche ihrer Gästin hin und lässt Sally ihren Freiraum. Sally bemerkt, dass Liss von den anderen Dorfbewohnern geschnitten wird, nur die alte Anni redet mit ihr. Die beiden Einzelgängerinnen spüren schnell eine tiefe Verbundenheit. Sowohl für Sally als auch für Liss ist ihre entstehende Freundschaft ein lebensverändernder Einschnitt.

Meinung

Ein außergewöhnlicher Roman über eine ehrliche und tiefgehende Freundschaft zwischen zwei Frauen, die auf den ersten Blick nicht nur der Altersunterschied unterscheidet. Innerhalb von ungefähr sechs Wochen entsteht zwischen Sally und Liss eine Verbindung, deren Kraft beim Lesen spürbar wird. Ebenso lebhaft spürte ich auch Sallys unbändige Wut auf die Welt und später ebenso die von Liss, wobei bei Liss zeitweise auch eine große Verzweiflung durchbricht. Denn auch in Liss, die erst einmal sehr in sich ruhend wirkt, hat sich einiges aufgestaut, das durch die Begegnung mit Sally wieder hochkommt.

In herbstlicher Kulisse arbeiten die beiden Frauen Seite an Seite. Durch Liss erfährt Sally viel über Entstehung, aber auch über Vergänglichkeit, vor allem begreift Sally, dass alles seinen Platz und seinen Nutzen in der Welt hat. Besonders der wildverwachsene Obstgarten mit den alten Birnensorten hat es Sally angetan, dort fühlt sie die Ursprünglichkeit der Natur. Diese Erfahrungen verändern Sally, was man als Leser:in hervorragend nachvollziehen kann, denn auch man selbst erlebt beim Lesen des Romans eine gewisse Entschleunigung.

Im Verlauf der Geschichte wird klar, dass die Frauen vieles gemeinsam haben, das eine besondere Freundschaft entsteht, die beide ins Leben zurückholt. Beim Lesen beginnt die Erzählung zu leben. Man riecht förmlich die reifen Birnen, sieht den morgendlichen Dunst über den Feldern liegen und hört das leise Summen der Bienen. Ewald Arenz macht seinen Roman zu einem Erlebnis, seine unprätentiösen Beschreibungen erschaffen Bilder, die der Geschichte eine besondere Note geben. Es ist wunderbar Sally und Liss zu erleben und die aufkommende Nähe zu verfolgen. Ein sehr kluger, einfühlsamer Roman mit viel Lebensweisheit.

 

Fazit

Still, leise und doch mit großer Kraft ist dieser Roman eine absolute Leseempfehlung.