Rezension

Gute Idee, gruselig umgesetzt ​

Fast genial - Benedict Wells

Fast genial
von Benedict Wells

Bewertet mit 2 Sternen

Ich habe nun alle Bücher von Benedict Wells gelesen bis auf „Becks letzter Sommer“ und ich möchte vorab sagen, dass ich eigentlich ein Fan seiner Bücher bin. Ich mag seine gut ausgearbeitet Figuren, seinen nie zu kitschigen oder zu vulgären Schreibstil, mit dem er Gefühle und Situationen perfekt auf den Punkt bringt. Ich mag seine einfühlsame Art zu schreiben.
Doch leider habe ich in „Fast genial“ nichts davon finden können.

Von der Idee her hätte „Fast genial“ ein unterhaltsamer Roadtrip-Roman über Freundschaft, die erste Liebe und die Suche danach, wer man ist, sein können. Und einige Aspekte des Romans haben mir auch gut gefallen.
Durch die Geschichte mit der Samenbank wirft Wells geschickt die Frage auf, wer man ist und was einen ausmacht: Sind es die Gene, die Eltern oder doch das, was man aus seinen Leben macht?
Anhand von Francis‘ Leben zeigt er auch schockierend ehrlich auf, wie schwer es für Kinder aus schwierigen sozialen Verhältnissen ist, jemals aus dem Teufelskreis aus Armut und mangelnder Bildung herauszukommen. Glücklicherweise macht er Francis zwar durch dessen Hoffnungen und Träume zum Sympathieträger, jedoch nicht zum unrealistischen Helden, der binnen eines Buches durch ein Wunder vom Tellerwäscher zum Millionär wird.

Ebenfalls positiv überrascht hat mich der Verlauf der Handlung. Ich hatte erwartet, das Buch würde nur eine Momentaufnahme des Lebens der Figuren darstellen und nach dem Roadtrip enden. Doch stattdessen blickt der Roman noch ein wenig weiter in die Zukunft der Figuren und zeigt, wie die Reise sie verändert hat, ohne dabei unrealistisch kitschig zu werden. Es wirkt realistisch, auch ein wenig böse, und ist literarisch gut gemacht.

Leider hatte ich mit den Figuren, insbesondere Francis, große Probleme. Er war mir auf Anhieb unsympathisch, weil er den Leser*innen gegenüber häufig abfällige Kommentare über andere Figuren abgibt, zum Beispiel über ein übergewichtiges Ehepaar sagt, die beiden hätten Sex bestimmt durch Essen ersetzt, oder einen Menschen nur aufgrund seines Äußeren als „versoffenen Bauarbeiter“ bezeichnet - und das von jemandem, der selbst häufig mit Vorurteilen aufgrund seines Äußeren zu kämpfen hat. In Hinblick auf seine häufig respektlose Art deinen Mitmenschen gegenüber hat mir in diesem Roman leider bei ihm eine Entwicklung gefehlt.

Über das ganze Buch hindurch war es mir auch nicht möglich, eine emotionale Verbindung zu ihm aufzubauen, da es zwar häufig um Francis‘ Emotionen geht, er auf mich jedoch trotzdem sehr distanziert wirkte. Als beispielsweise seine Katze, die ihm wichtig zu sein schien, überfahren wird, wird relativ emotionslos geschildert, wie er sie in eine Tüte packt und begräbt, und nichts darüber gesagt, wie er sich dabei fühlt.

Am schlimmsten war für mich die Art, wie Francis die Menschen behandelt, die ihm angeblich nahestehen. Dass er auf seine psychisch kranke Mutter zwischenzeitlich sauer ist und das Gefühl hat, dass sie sein Leben zerstört, halte ich noch ein Stück weit für authentisch.
Doch sein Umgang mit Anne May, ein Mädchen in der Psychiatrie, in das er sich verliebt, ist, gelinge gesagt, unter aller Sau. Es fängt schon damit an, dass er sich freut, dass sie in der Psychiatrie ist und dort nicht weg kann, weil er so Zeit hat, an sie heranzukommen. Dieses Verhalten finde ich erschreckend und ziemlich übergriffig, weil er völlig ignoriert, dass sie selbst entscheiden sollte, ob sie Zeit mit ihm verbringen möchte. Auch als sie ihm sagt, sie habe keine Gefühle für ihn, ignoriert er diese Tatsache und ihre Wünsche einfach.

Anne May verhält sich ihm gegenüber jedoch auch nicht besser. Bereits zu Beginn des Buches nutzt sie Francis‘ Gefühle für sie aus und spielt damit, ob bewusst oder unbewusst, das ganze Buch über. Ich fand es zwar angenehm realistisch, dass sie seine Gefühle nicht erwidert, ihr Verhalten fand ich jedoch furchtbar.
Leider habe ich auch nicht verstanden, was Francis an ihr überhaupt findet, und fand es eher klischeehaft und unrealistisch, dass er sich auf den ersten Blick in sie „verliebt“. Nachdem er sie kennengelernt hat, scheint er sein gesamtes Leben an ihr auszurichten und bis auf die Suche nach seinem Vater scheint er keine eigenen Träume und Interessen zu haben, außer denjenigen, die in irgendeiner Form Anne May beinhalten. Das fand ich eher traurig und halte es für eine zweifelhafte Aussage für einen Roman.

Auf andere Art ungesund ist seine Freundschaft zu seinem angeblich besten Freund Grover. Francis ist konstant unbewusst neidisch auf ihn und fühlt sich ihm unterlegen, weil Grover mehr Geld hat, intelligent ist und eine intakte Familie hat. Gleichzeitig beleidigt er Grover in seiner Erzählweise ständig als hässlich und nerdig und hält sich für etwas besseres. Besonders unmöglich fand ich eine Szene, in der Francis eine Frau bezahlt, damit sie Grover entjungfert, ohne diesen vorher zu fragen, ob er das überhaupt will. Als diese Frau Grover daraufhin ungefragt in einen Nebenraum zerrt, kam das für mich schon einem sexuellen Übergriff gleich.
Dass Francis‘ Verhalten im Buch nie problematisiert wird, finde ich sehr bedenklich.

Auch Wells‘ sonst so einfühlsamen, treffenden Schreibstil habe ich in „Fast genial“ vermisst. Er wirkte auf mich eher plump, insbesondere die einführenden Beschreibungen von Figuren, deren Persönlichkeit nicht subtil und indirekt beschrieben, sondern eher mit dem Holzhammer in einen reingeprügelt wird, als hätte man alle wichtigen Infos über eine Person sofort abhaken wollen. Sonderlich elegant fand ich das nicht.

Fazit

„Fast genial“ hat mit der Frage nach der eigenen Identität und der Thematisierung von schwierigen sozialen Verhältnissen einen tollen Ansatz, enttäuscht jedoch durch die unsympathischen Figuren, die sich häufig sehr problematisch verhalten.