Rezension

Meine zweite Dystopie und das Genre hat mich noch nicht verloren.

Die Stadt der verschwundenen Kinder - Caragh M. O'Brien

Die Stadt der verschwundenen Kinder
von Caragh M. O'Brien

Zu Beginn des Buches habe ich immer wieder Parallelen zu „Masken“ von Mara Lang entdeckt. Es gibt Herrscher und Unterdrückte, unsere Protagonistin fühlt sich total hässlich und bezeichnet sich als Monster. Es gibt ein System, welches beide zu Beginn des Buches hinnehmen, dann aber anzweifeln und am Ende bekämpfen wollen. Beide haben einen Mann an der Seite, der ihnen hilft, mehr oder weniger zumindest. Ich meine, schön, die Helden sind Frauen bzw. Mädchen, aber sie kriegen ohne Männer nichts hin. Selbst ist die Frau! Beide haben eine besondere Begabung, die eine magisch, die andere erlernt, aber beide Begabungen sind überlebenswichtig für die Gemeinschaft.
Jetzt mal weg von Masken, das hat mir ja nicht so gut gefallen.
Zu Beginn des Buches treffen wir Gaia, gerade einmal sechzehn Jahre jung, die eine Frau in der Nachbarschaft als Hebamme bei der Geburt beisteht. Aufgrund des Gesetzes der Enklave, welches die herrschende Stadt ist, muss Gaia das Kind jedoch vorbringen. Das bedeutet, dass das Kind von Eltern in der Enklave adoptiert wird. Offiziell weiß niemand, welches Kind von welchen Eltern aus Wharfton, dem Armenviertel außerhalb der Mauer, zu welchen Eltern innerhalb der Mauer gelangt. In Wharfton gibt es das Tvaltar, was ich mir wie eine Art Gemeindezentrum vorstelle. Dort werden Sendungen über das Leben in der Enklave gezeigt, in der alle reich sind, es Strom und fließend Wasser gibt, während in Wharfton alle arm sind und das Leben eher an ein Leben im Mittelalter erinnert.
Am Anfang des Buches findet man eine Karte von Wharfton und der Enklave. Diese habe ich mir angeschaut, bevor ich angefangen habe zu lese. Überraschung, ich habe nichts verstanden. Jetzt, nach dem Buch kann ich alles zuordnen. So, wie es sein soll.
Das Buch ist von Anfang an von einer düsteren Grundstimmung unterlegt, die mir beim Lesen aber nicht wirklich bewusst war. Es wird einem zwar immer wieder vor Augen gehalten, welche Gefahren auf uns lauern und wie schrecklich alles ist, aber es ist definitiv kein Gruselbuch und es ist auch nicht wie andere Bücher, in denen man sich immer irgendwie unheimlich fühlt.
Mir ist aufgefallen, dass die meisten Leute einen für unsere Gewohnheiten normalen, englischen / amerikanischen Namen haben: Bonnie, Jasper, Emily, Kyle, Derek, Emily, Fiona, etc. Es gibt auch ein paar etwas außergewöhnlichere wie Persephone, aber den Namen Gaia habe ich noch nie gehört. Google hilft aber auch hier und ich stelle fest, dass es diesen Namen tatsächlich gibt. Gaia bedeutet demnach in der griechischen Mythologie „Urmutter Erde“. Demnach passt der Name schon zu unserer Hauptfigur, die als Hebamme ja die Kinder auf die Welt bringt.
Gaia ist nicht zur Schule gegangen, das Privileg haben nur die Leute in der Enklave, aber sie ist bei weitem nicht dumm oder auf den Kopf gefallen. Ganz im Gegenteil. Obwohl ihr diese Bildung fehlt, kann sie mit den anderen Figuren locker mithalten. Sie wirkt zwar häufig naiv, weil sie vieles nicht kennt, z.B. Wasser aus der Leitung und dann noch heiß!, aber sie macht dies durch eine gute Auffassungsgabe und Neugier wett (hach, schon wieder eine Parallele zu Masken). 
Ich finde die Idee gut, hier auch gut ausgearbeitet (endlich keine Ähnlichkeit mit Masken!). Die Charaktere sind gut ausgearbeitet, besitzen Tiefe und haben Emotionen.
Die Geschichte wird nicht langweilig. Es gibt einen Hauptstrang, aber um die 462 Seiten nicht langweilig werden zu lassen, kommen immer wieder neue Tatsachen ans Licht.
Ich muss aber sagen, dass ich den Originaltitel wesentlich passender finde als den Deutschen.
Meine zweite Dystopie und das Genre hat mich noch nicht verloren.