Rezension

Empfehlenswerte Dystopie für Jugendliche

Die Stadt der verschwundenen Kinder - Caragh M. O'Brien

Die Stadt der verschwundenen Kinder
von Caragh M. O'Brien

Bewertet mit 4 Sternen

Die Stadt der verschwundenen Kinder ist Caragh O’Briens erstes Jugendbuch und der Auftakt einer Trilogie, die unter dem Originaltitel Birthmarked erschienen ist. Der dritte und letzte Teil der Reihe (Promised) erscheint im Oktober 2012 auf Englisch. Aufgrund der vielen Fragen, die der erste Teil offen gelassen und der zweite nicht beantwortet hat, hat die Autorin im Dezember 2011 unter dem Titel Tortured (Birthmarked 1.5) ein englischsprachiges e-paper herausgegeben, das man sich auf www.Tor.com kostenlos herunterladen kann.

Die Welt des Romans

Die Geschichte versetzt den Leser 400 Jahre in die Zukunft in eine Welt ohne Öl und Treibstoff, die sich durch Klimawandel, Krankheiten und den Kalten Krieg weitgehend auf Ödland, Trockenseen und Armut beschränkt – abgesehen von einem kleinen Fleckchen Erde, der sogenannten Enklave, wo sich eine Gruppe Überlebender, durch eine bewachte Mauer abgeschirmt, mit Hilfe von Sonnenkraft, geothermischer Energie und dem Züchten von eiweißreichen Pilzen einen gewissen Lebensstandard aufgebaut hat, der dem vor der Katastrophe recht nahe kommt. Die Menschen, die sich nach und nach außerhalb dieser Mauer angesiedelt haben, sind arm und vollkommen abhängig von den Gütern der Enklave. Sie hätten vermutlich nicht überlebt, wäre da nicht etwas, was sie haben und an dem es der Enklave mangelt: Fruchtbarkeit und widerstandsfähige Gesundheit. Trotz Luxus werden innerhalb der Mauern nicht nur zu wenige Kinder geboren, sondern die Kinder sterben auch spätestens als Teenager an der Bluterkrankheit Hämophilie, bedingt durch einen genetischen Defekt, der durch den unweigerlichen Inzest seine Begründung findet.

Der Inhalt

Die 16jährige Protagonistin Gaia Stone lebt im dritten westlichen Sektor von Wharfton, einer Armensiedlung direkt an der Mauer zur Enklave. Ihre Mutter Bonnie ist Hebamme in ihrem Viertel. Dieser Beruf zwingt sie per Gesetz dazu, jeden Monat eine vorgegebene Anzahl an Neugeborenen innerhalb der ersten 90 Lebensminuten „vorzubringen“, d.h. der leiblichen Mutter wegzunehmen und zum Tor der Enklave zu bringen, wo es entgegengenommen und in das dortige Säuglingsheim gebracht wird. Hier wird es versorgt und später von reichen Eltern adoptiert. Die Anzahl der vorzubringenden Babys hängt von der sogenannten Babyquote ab, die vom Führer der Enklave, dem Protektor, je nach Bedarf festgelegt wird. Als Gegenleistung bekommt die Hebamme alles, was sie zum Überleben braucht. Besonders begehrt als Entlohnung und von höchstem Tauschwert sind Eintrittskarten für das örtliche Filmtheater, genannt Tvaltar. Hier werden vergleichbar mit dem Westfernsehen in der ehemaligen DDR neben Märchenfilmen auch Übertragungen vom Leben in der Enklave gezeigt.

Gaia hat eine für alle sichtbare Brandnarbe auf der linken Wange, die sie als Baby davor bewahrt hat, ebenso wie ihre beiden älteren Brüder vorgebracht zu werden. Wegen dieser Narbe ist sie allerdings in Wharfton als Missgeburt stigmatisiert. Sie wird von Gleichaltrigen gehänselt und von Erwachsenen verspottet und auf Distanz gehalten. Vermutlich ist es jedoch genau dieses Stigma zusammen mit der unerschütterlichen Liebe und Zuneigung ihrer Eltern, das sie zu etwas Besonderem heranwachsen lässt. Sie ist nach außen hin stark, mutig, selbstbewusst und schlau, nach innen jedoch auch unsicher und verletzlich.

An dem Tag, an dem Gaia sich wegen zweier zeitgleicher Geburten von ihrer Mutter trennen muss, um selbst als Hebamme ihr erstes Baby zur Welt zu bringen, werden ihre Eltern festgenommen und zum Verhör in die Enklave gebracht. Gaia ist nun alleine und den bohrenden Fragen des ermittelnden Sergeant Leon Grey ausgesetzt, die sie alle nicht beantworten kann und verunsichern.

Zunächst tritt Gaia in die Fußstapfen ihrer Mutter, allerdings wirft neben den Forderungen des Sergeant auch der ungewisse Verbleib der Eltern immer mehr offene Fragen in ihr auf – auch über den Sinn ihrer Aufgaben als Hebamme. Der zunächst zaghafte Wunsch, durch die Mauer zu den Eltern in die Enklave zu gelangen, entwickelt sich als handfester Plan, der ihr auch letztlich gelingt. Hier begegnet sie erneut Leon Grey und wird in vollen Zügen mit der Brutalität und der Macht des Systems konfrontiert.

Beurteilung

Caragh O’Brien schreibt flüssig und sehr detailverliebt. Damit zieht sie den Leser sofort in das Geschehen hinein. Das Wissen über die Tätigkeiten einer Hebamme wirkt sehr fundiert. Bei zahlreichen Dialogen, vor allem denen zwischen Gaia und Leon,  bekommt der Leser auch die subtilen Stimmungen in der Luft mit, ohne dass sie direkt beschrieben oder ausgesprochen werden. Die prägnanten Überschriften der 28 Kapitel unterteilen das Buch in leicht verdauliche Häppchen, was ich sehr angenehm fand.

Die Gegensätze vor und hinter der Mauer, die Abhängigkeit zwischen den beiden Seiten und der Kontrast zwischen arm und reich – all das ist im Grunde nichts Neues. In Die Stadt der verschwundenen Kinder wird es jedoch in einen anderen Kontext gesetzt. Durch die Fortpflanzungsproblematik bekommt alles einen neuen Touch, der das bei Zukunftsvisionen oft in den Mittelpunkt gestellte Nahrungsproblem in den Schatten stellt. Letzteres können die Menschen kraft ihres Intellekts durchaus lösen, wobei ihnen die Dezimierung der Bevölkerung natürlich hilft. All das finde ich sehr plausibel.

Fazit:

Ich halte das Jugendbuch Die Stadt der verschwundenen Kinder als Dystopie für sehr gelungen und lesenswert für jung und alt. Anders als vergleichbare Bücher, die derzeit auf den Markt strömen, stehen rohe Gewalt und das Töten hier nicht im Mittelpunkt. Das Buch gibt dem Leser Denkanstöße und lässt dennoch einen gewissen Unterhaltungswert nicht vermissen – die sich anbahnende Liebesbeziehung zwischen Gaia und Leon lockert die Geschichte sehr auf und ist sicherlich für Jugendliche ein nicht zu leugnender Lesereiz.