Rezension

Streets of Philadelphia

Long Bright River - Liz Moore

Long Bright River
von Liz Moore

Bewertet mit 4 Sternen

Eine richtige Vorstellung von Philadelphia als Stadt habe ich nicht – aber sobald der Name auftaucht, summt in meinem Kopf der Song „Streets of Philadelphia“ von Bruce Springsteen und ich sehe ihn in Bluejeans und schmuddeligem Shirt übernächtigt vor der Kulisse der Stadt entlangwandern. Es ist nicht so, dass mich das Lied beim Lesen von Liz Moores „Long Bright River“ als Soundtrack begleitet hätte, aber die Bilder aus dem Musikvideo, die Straßen und Häuserblöcke, an denen Springsteen vorbeiläuft – so stelle ich mir auch die Straßen vor, in der Mickey Streife fährt und nach ihrer Schwester Ausschau hält. Es scheint eine raue Stadt mit hart arbeitenden Menschen zu sein, zumindest das Viertel, in dem Mickey mit ihrer kleinen Schwester Kacey aufgewachsen ist. Mickey und Kacys Mutter stirb jungen den Drogentod und die beiden kleinen Mädchen bleiben bei der verbitterten Großmutter Gee zurück, die rund um die Uhr schuftet, um die Familie durchzubringen. Da Gee vom Vater der Mädchen nicht viel hält und ihn für den Tod ihrer einzigen Tochter verantwortlich macht, verschwindet dieser bald aus dem Leben der Kinder. Die Beziehung der Schwestern ist innig. Die quirlige Kacey ist beliebt in ihrem Umfeld und zieht die introvertierte große Schwester oft mit. Mickey dagegen fühlt sich für ihre Schwester verantwortlich, sorgt für sie, hört ihr zu und lenkt sie aus chaotischen Bahnen. Während der Pubertät verändert sich diese innige Beziehung, die Schwestern driften auseinander. Kacey rutscht ab ins Drogenmilieu und Mickey steigert sich hinein in eine Schwärmerei für einen jungen Polizisten. So stehen sie als junge Erwachsene plötzlich auf zwei entgegengesetzten Seiten. Mickey wird Streifenpolizistin und Kacey landet auf dem Straßenstrich, um sich Geld für den nächsten Schuss zu besorgen. Eine ausweglose Situation, mit denen sich beide anscheinend abgefunden haben. Doch auf den täglichen Streifenfahrten kann Mickey ihre kleine Schwester seit einiger Zeit nicht mehr entdecken und dann werden in dem berüchtigten Drogenviertel junge Frauen ermordet aufgefunden. Mickey hat nie aufgehört, sich um ihre Schwester zu sorgen und nun betet sie, dass Kacey kein Opfer dieses Serienmörders wird. Eine quälende Suche nach Kacey und dem Mörder beginnt.

Der Roman ist ganz aus der Sicht von Mickey geschrieben. Er beginnt mit einer Auflistung von Namen alljener, die den Drogentod gestorben sind. Darunter viele Familienmitglieder und Bekannte der Familie, allen voran ihre Mutter und ihr Vater. Noch steht Kacey nicht dabei, aber Mickey versucht sich innerlich darauf vorzubereiten, eines Tages den Namen ihrer Schwester hinzu fügen zu müssen. Das ist wohl ihr größte Angst. Und während Mickey von jetzt und früher erzählt, kann ich mich ihrer tiefen Einsamkeit nicht entziehen. Ihre Traurigkeit und Sorge hüllt mich ein, es ist, als trüge sie die Last der gesamten Welt auf ihren Schultern. Sie ist alleinerziehende Mutter, der Kontakt zum Kindsvater abgebrochen, ihr langjähriger Partner im Polizeidienst außer Gefecht gesetzt worden und die Verbindungen zur Familie fast gänzlich verloren. Ihr Gehalt reicht hinten und vorn nicht, um ihrem Sohn die gute Bildung zu ermöglichen, die ihr verwehrt worden ist.

Liz Moores Erzählton ist eindringlich und schafft eine permanente Spannung, die mitunter bedrohlich unter allem Erzählten wabert. Es ist beeindruckend wie die Autorin es schafft, dass sich die Figur der Ich-Erzählerin verändert, differenzierter wird, je mehr sie enthüllt oder eben bis dahin zurück gehalten hat. Zwischendurch überlege ich ernsthaft, welche Geschichten Mickeys ich denn Glauben schenken sollte. Ihre Glaubwürdigkeit beginnt zu schwanken, durch Erzählrisse schimmert durch, wer Mickey wirklich ist und nicht, wer sie denkt zu sein. Der Roman ist wie ein Sog, die Handlung spitzt sich plötzlich zu, bedroht Mickeys kleine verbliebene Familie, deckt Geheimnisse auf und holt Menschen von den Toten zurück. Schwer auszuhalten ist zudem das Drogenmilieu, in dem Mickey auf eigene Faust ermittelt und das bis tief in ihre eigene Familie hineinreicht. Der zuweilen aufblitzende Fatalismus der süchtigen Figuren schockiert mich, lässt mich eine Trennwand zwischen ihnen und mir hochziehen. Eine Wand, die auch Mickey um sich und ihren Sohn hochgezogen hat. Moores Roman sollte gelesen werden. Er zeigt die Zwänge der Herkunft auf, die Schwierigkeit sich als junger Mensch den Familienprinzipien entgegen zu stellen, mehr zu wollen und sich dafür nicht schämen zu müssen, um sich dann doch zu ergeben, dem unvermeidlichen Familienschicksal.