Rezension

Überraschend, fesselnd, zeitweise erdrückend

Die Tanzenden - Victoria Mas

Die Tanzenden
von Victoria Mas

Bewertet mit 5 Sternen

Leicht wie eine Feder oder vogelfrei? Das Schicksal der Salpêtrière-Frauen von 1885, schweres Thema mit Leichtigkeit erzählt. Bin begeistert.

Schon das hübsche Cover zu Victoria Mas‘ „Die Tanzenden“ deutet auf das Ereignis hin, dem die gesamte Pariser Hautevolee entgegenfiebert, den Ball zu Mittfasten. Es ist mit einer Leichtigkeit gezeichnet, die sich genauso auch im Roman wiederfindet. Doch die fühlbaren Federn des schwingenden Kleides verkörpern für mich nicht nur Amüsement, sondern auch einen gewissen Schwebezustand und ein Stück weit Vogelfreiheit.

Louise und Eugénie sind Patientinnen im Hôpital de la Salpêtrière in Paris, das im ausklingenden 19. Jahrhundert als Zentrum für gynäkologisch definierte Hysterie bekannt war. Jean-Martin Charcot und Joseph Babinski haben seinerzeit dort praktiziert. Neben den Vorbereitungen für den anstehenden Ball, erzählt der Roman vor Allem von den Lebensumständen der Frauen, die in der Salpêtrière untergebracht sind, um dort behandelt zu werden. Die Behandlungsmethoden sind abstoßend, die Wehrlosigkeit der als geisteskrank abgestempelten Frauen ist wahnsinnig erdrückend. Die Nerven zart besaiteter Leser werden ganz schön strapaziert. Besonders erschüttert hat mich der Vorgang einer Einweisung in die Salpêtrière. Die Einfachheit, mit der man sich über diesem Weg seiner unliebsamen oder unbequemen Frauen entledigen konnte, hat mich maximal schockiert. In diesem Sinne waren doch die Frauen insgesamt einfach nur vogelfreie Wesen.

Trotzdem sollte man sich die Lektüre gönnen. Victoria Mas transportiert das Grauen aus dem Behandlungszimmer derart galant mitten in den lesenden Kopf, dass man den Roman eigentlich nicht mehr aus der Hand legen möchte. Nicht nur die bildliche Vorstellung der Szenerie hat eine starke Präsenz, sondern auch die Empfindungen und Ängste der zum Behandlungsobjekt degradierten Frauen. Sprachlich ist das Geschehen leicht und sanft wie eine Feder aufgesetzt, was durch den extremen Kontrast zur Handlung eine angenehme Wirkung auf mich hatte.

Zudem gibt es wunderbare Charaktere. In diesem Roman sind es allesamt Frauen. Am besten haben mir die Protagonistinnen Genevière und Eugénie gefallen, aber auch die Nebenfigur Thérèse als Ruhepol unter den Patientinnen hatte meine Sympathie. Bei Genevière hat mir ihre Entwicklung gefallen. Nach jahrelanger Routine und Erfahrung dehnt sie die gelebten Regeln, erfährt durch die Änderung des Blickwinkels Erkenntnisgewinne, die sie niemals für möglich gehalten hätte. So entwächst sie der strengen im Hintergrund agierenden grauen Maus und wird zur Organisatorin eines richtig großen Coups. Eugénie ist intelligent und weltoffen, blickt über ihren Tellerrand hinaus. Leider ist sie zu impulsiv, um ihr Wissen clever einzusetzen. Beiden gemein ist der Mut, den es braucht, der Männerwelt aller Unterdrückung zum Trotz gegenüber zu treten.

Victoria Mas hat der Lesegemeinde mit ihrem Debütroman „Die Tanzenden“ ein über alle Maßen tolles Buch geschenkt. Sie behandelt ein schweres Thema mit einer Leichtigkeit, die ihresgleichen sucht. Sehr gern lege ich euch die Lektüre ans Herz.