Rezension

Durch die halbe Wahrheit wird die ganze Wahrheit verhüllt

Nach einer wahren Geschichte - Delphine de Vigan

Nach einer wahren Geschichte
von Delphine de Vigan

Bewertet mit 4 Sternen

Delphine de Vigan versteht es in ihrem atmosphärisch dichten Roman "Nach einer wahren Geschichte" den Leser zu fesseln, zum nachdenken zu bringen und schließlich verwirrt wieder sich selbst zu überlassen.

Die erfolgreiche, aber zurückhaltende Autorin Delphine lernt auf einer Party die faszinierende L. kennen, die als Ghostwriterin arbeitet. Delphine ist glücklich über die Gemeinsamkeiten und fühlt sich verstanden wie schon lange nicht mehr. Ungewöhnlich schnell entwickelt sie ein freundschaftliches Verhältnis zu der klugen eleganten Frau. Als sie L. gegenüber die Idee für ihr nächstes fiktives Buch preisgibt, reagiert diese ablehnend und fordert immer vehementer, dass Delphine über die Wahrheit schreiben müsse. Bald darauf gerät Delphine in eine massive Schreibblockade, in der ihr L. nicht von der Seite weicht und immer mehr Bereiche ihres Lebens übernimmt.

Ich entschied mich für das Hörbuch-Version dieses Romans und habe es nicht bereut. Gelesen wurde es von der Schauspielerin Martina Gedeck, die mit ihrer Stimme eindrucksvoll die immer dichter und bedrückender werdende Stimmung verdeutlichen konnte und die Protagonisten in den Dialogen authentisch lebendig werden ließ.

Das Cover zeigt auf rotem Hintergrund das stilvolle Profil einer jungen Frau, von der man sich fragt, ob dies eine echte Fotografie zu der laut Titel erwähnten "wahren Geschichte" ist. Da es sich bei diesem Buch jedoch ausgewiesenermaßen um einen Roman handelt, kann dies nur eine Vermutung sein, die im Laufe des Buches allerdings aufgrund des andersartigen Aussehens der im Buch agierenden Personen jedoch entkräftigt wird. So ist bereits das Cover ein erstes Verwirrspiel, das die Autorin hier beginnt.

Da die Protagonistin des Buches jedoch ihren Namen trägt, erweckt dieser Roman schnell den Eindruck, dass Delphine de Vigan hier auf eine sehr ruhige und unaufgeregte Weise von ihrem großen Erfolg „Das Lächeln meiner Mutter“ und ihrem Leben als Autorin, aber auch als Privatperson berichtet. Das alles geschieht in nachvollziehbarer und interessanter Weise, so dass man als Leser viel übers Schreiben erfährt und das Gefühl hat, die sympathische Autorin tatsächlich etwas besser kennenzulernen.

So ist es auch tragisch mitzuerleben, wie sich aus der scheinbar hilfsbereiten und vertrauenswürdigen L. immer mehr eine übergriffige, seltsame, besitzergreifende und neurotische Frau entwickelt, die von der faszinierenden Freundin schließlich zur unberechenbaren Kontrahentin wird.

Gleichzeitig erwecken Diskussionen zwischen Delphine und L., bei denen es um die Erwartungshaltung der Leser gegenüber dem Wahrheitsgehalt von Büchern geht, irgendwann Skepsis gegenüber des Buches, das man gerade liest und bei dem man von vornherein automatisch einen großen Wahrheitsgehalt vorausgesetzt hatte. So gerät man nebenher immer mehr ins Nachdenken und glaubt diesem Buch immer weniger, obwohl man mit Delphine mitfiebert. Die Autorin spielt hier gekonnt mit dem Leser, lässt schließlich auch noch an Delphine zweifeln und entwickelt dadurch einen Spannungsbogen, der einen unbedingt wissen lassen will, wie sich diese ganze Situation auflöst.