Rezension

Auf die Spitze getrieben

Nach einer wahren Geschichte - Delphine de Vigan

Nach einer wahren Geschichte
von Delphine de Vigan

Bewertet mit 5 Sternen

Im Leben der Schriftstellerin Delphine ist gerade viel los, als sie auf einer Feier auf L. trifft. Der Erfolg ihres stark autobiografisch geprägten Romans über ihre Mutter hat Delphine überwältigt. Ihre Kinder stecken mitten im Abitur und sind dabei sich weit weg von zu Hause Studienplätze zu suchen. Ihr Partner ist beruflich viel im Ausland unterwegs. Stolz und Angst liegen für Delphine in dieser Phase ihres Lebens nah beieinander und steigern sich mit der Zeit in die absolute Unmöglichkeit einen Stift in die Hand zu nehmen, geschweige denn zu schreiben. Da ist es eine enorme Erleichterung eine so gute Freundin wie L. an der Seite zu haben. Aber meint L. es wirklich gut mit ihr?

Delphine lässt von Anfang an keinen Zweifel, dass ihre Beziehung zu L. in einer Katastrophe endet. Das gibt dem ganzen Roman eine enorm gespannte Stimmung und hat mich in einen regelrechten Lesesog geraten lassen. Dazu kommt ihre absolut einfühlsame Beschreibung L.s und der Freundschaft der beiden Frauen. Ihre Gespräche, die Beschreibung von Auftreten, Stil und Eigenschaften haben mich fasziniert. Dabei schwingt aber auch immer ein gewisser Zweifel an L. Absichten, ja ihrer "Echtheit" mit.

"Der Fahrer hielt vor meiner Tür.
L. streichelte mir die Wange.
Ich habe oft an diese Geste zurückgedacht, an das, was sie an Sanftheit, Zärtlichkeit und vielleicht Begehren enthielt. Oder vielleicht enthielt sie auch nichts dergleichen. Denn im Grunde weiß ich nichts über L. und habe nie etwas über sie gewusst."

- Seite 31

Ein großes Thema für beide Frauen ist natürlich die Literatur. L. ist der Meinung, dass nur wirklich Erlebtes die Leser noch berühren kann. Fiktion ist für sie Zeitverschwendung. Delphine sieht beides als gleichberechtigt. Schließlich ist kein Text 100% echt, aufschreiben bedeutet fiktionalisieren. Einig werden sich die beiden nicht, aber für mich als Leser waren diese Diskussionen eine absolute Freude. Denn exakt mit diesen Topoi spielt die "echte" Autorin De Vigan den kompletten Roman hindurch bis zum aufs Sternchen* gelungenem Ende. Ständig fragt man sich ob man nun eine Biografie liest oder einen fiktionalen Text oder eine Mischung aus beiden. Auch die eigentliche Autorenschaft nimmt sie aufs Korn. Und ich liebe dem Roman allein für diese perfekte Symbiose von Form und Inhalt!

Delphine De Vigan ist hier ein wunderbar düsterer, intensiver und kluger Roman mit Sogwirkung gelungen. Ein auf die Spitze getriebenes Gedankenspiel, das mich großartig unterhalten hat.

Kommentare

gst kommentierte am 18. September 2021 um 18:54

Delphine de Vigan habe ich bisher sehr gern gelesen. Du machst mich neugierig auf dieses Werk!

wandagreen kommentierte am 18. September 2021 um 20:29

Minzi und ich liegen in der Beurteilung dieses "Werks" allerdings ausnahmsweise einmal WEIT auseinander.

katzenminze kommentierte am 18. September 2021 um 23:58

Diesmal vertrittst du die Außenseitermeinung. Von Schoki und Stricki gabs auch 5 Sterne. ;D

wandagreen kommentierte am 19. September 2021 um 00:22

strange.