Rezension

Ein geistreicher, lesenswerter Roman über die eigene Identität, ihre Fragilität, uvm.

Nach einer wahren Geschichte - Delphine de Vigan

Nach einer wahren Geschichte
von Delphine de Vigan

Bewertet mit 4 Sternen

Ein geistreicher, lesenswerter Roman, der gut unterhält und zum Nachdenken über die eigene Identität, ihre Fragilität, uvm. anregt. Interessant vor allem für Schreiberlinge und diejenigen, die es werden wollen, aber auch für passionierte LeserInnen, denn Delphine erzählt aus dem Nähkästchen, wie sich eine erfolgreiche Schriftstellerin nach einem Erfolg fühlt und wie ihre Arbeit und damit verbundenen Schwierigkeiten aussehen.

Im Wesentlichen ist es ein Stück, das von zwei Profi-Schreiberinnen Anfang-Mitte vierzig handelt, die sich ausgiebig zum Thema Schreiben und Literatur austauschen. Aber auch andere Kernthemen wie Freundschaft, Liebe, Familie, das Leben insg. werden recht tiefgründig wie geistreich ausdiskutiert.

Die eine, Delphine, hat es zum nennenswerten Erfolg geschafft und die andere, L. genannt, betätigt sich nach eigenen Angaben als Ghostwriterin. Die Kernfrage, zu der die Diskussionen immer wieder zurückkehren, ist, was die Leser wirklich wollen. Die Ghostwriterin vertritt vehement die Meinung, die Leser wollen das wahre Leben, Realismus, übersetzt in Literatur. Delphine sieht es anders: Fiktion ist der Weg zum Erfolg. Bloß der lässt sich nicht mehr für Delphine einstellen. Sie befindet sich in einer Schaffenskrise und schlittert immer weiter hinein, je mehr Zeit sie mit L. verbringt. Delphine ahnt nicht, was L. eigentlich vorhat und lässt sich von Ausführungen ihrer neuen Freundin mitreißen. L. spielt eine fürsorgliche Freundin, ist immer für Delphine da, hat stets ein offenes Ohr für ihre Sorgen und Probleme. Als es schon zu spät ist und Delphine diese Freundschaft fast mit dem Leben bezahlt, fallen ihr Schuppen von Augen.

Die Frage der eigenen Identität ist in dieser Geschichte aktiv, anhand des eigenen Beispiels, „einer wahren Geschichte“, wie der Titel besagt, angegangen worden. Als erfolgreiche Schriftstellerin sieht sich Delphine gezwungen, sich immer neu erfinden zu müssen. In die Richtung, in die L. sie drängt, will sie aber nicht gehen, etwas Eigenes will ihr auch nicht recht gelingen, nicht zuletzt, weil L. sich dazwischen stellt und dafür sorgt, dass Delphine immer weiter in die krankhafte Schreibblockade abgleitet.

Auch das Thema der Einsamkeit in der modernen Großstadtgesellschaft schwingt aktiv mit. Paris ist voll von Menschen, Delphine ist aber einsam wie in der Wüste. Selbst ihrem Freund kann sich Delphine nicht anvertrauen und landet immer mehr in der Isolation.

Die Art der Stoffdarbietung ist etwas gewöhnungsbedürftig. Es ist, als ob die Autorin den Verlauf ihrer Krankheit vor Augen der Leser Schritt für Schritt freilegt. Sie blickt auf die Geschehnisse zurück und versucht dabei zu erklären, wie es dazu kommen konnte. Sie zeigt, wie arglos und einsam sie war, nennt aber auch die Punkte, die sie aufhorchen ließen, sie dazu brachten, Verdacht zu schöpfen. Diese vorausschauenden, auf den bekannten Ausgang der Geschichte gerichteten Kommentare nahmen leider Spannung weg, von der die Geschichte auch sonst nicht gerade strotzt.

Delphine war mir leider zu naiv. Ich konnte einfach nicht glauben, dass sich eine Frau mit Lebenserfahrung, eine gefeierte Schriftstellerin und sonst nicht auf den Kopf gefallen, so benehmen, bzw. hinters Licht führen lassen kann. Und je näher sich die Geschichte dem Schluss neigte, desto konstruierter und unglaubwürdiger kam sie mir vor: Drama auf Teufel komm raus. Ohne diese Naivität wäre diese Geschichte gar nicht möglich.

Auf der anderen Waageschale gibt es Vorzüge wie Fragestellungen zu akuten Themen des heutigen Lebens, leise Kritik der modernen Gesellschaft und eine Menge von geistreichen Sätzen. „.. ein Buch ist nichts anderes als eine Art radioaktiver, langsam zerfallender Stoff, der noch lange weiterstrahlt. Und letzten Endes werden wir immer als das betrachtet, was wir sind, menschliche Bomben mit erschreckender Zerstörungskraft, denn niemand weiß, wie wir das Material nutzen.“S. 90. „Was glaubst du, woraus Schriftsteller bestehen? … Ihr seid das Ergebnis von Scham, Schmerz, Geheimnis und Zusammenbruch. Ihr kommt aus namenlosen dunklen Gegenden oder habt sie zumindest durchquert. Überlebende, das seid ihr, jeder Einzelne und jeder auf seine Weise. Das gibt euch nicht alle Rechte. Aber glaub mir, es gibt euch das Recht zu schreiben, auch wenn es einen Aufruhr gibt.“ S. 151. „Ich bin dir nicht begegnet, ich habe dich erkannt.“ S. 278.

Es ist schon psychologisch fein, mir fehlte dennoch ein Quäntchen Raffinesse.

Die Länge der Kapitel ist sehr gut, passend ausgewählt. Es ist die Art von Stoff, der durchaus genug Zwischenraum braucht. Manchmal, nach drei-vier Seiten, ein Kapitelende zu sehen war schon eine Wohltat.

Fazit: Ein geistreicher, lesenswerter Roman, der gut unterhält und zum Nachdenken über die eigene Identität, ihre Fragilität, uvm. anregt. Interessant vor allem für Schreiberlinge und diejenigen, die es werden wollen, aber auch für passionierte LeserInnen, denn Delphine erzählt aus dem Nähkästchen, wie sich eine erfolgreiche Schriftstellerin nach einem Erfolg fühlt und wie ihre Arbeit und damit verbundenen Schwierigkeiten aussehen.