Rezension

Ein kurzes und ein langes Leben

Bevor die Welt erwacht - Monica Wood

Bevor die Welt erwacht
von Monica Wood

Bewertet mit 5 Sternen

          Eine großartige Geschichte, so unglaublich beeindruckend wie überwältigend einfach.
Da trennen zwei Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, erstaunlich viele Lebensjahre, sage und schreibe 93 Jahre! Und trotzdem: Sie verstehen sich außerordentlich gut, der kleine 11jährige Junge, der ohne Namen bleibt und die uralte 104jährige Ona Vitkus.
Trotz ihres hohen Alters möchte Ona keine Hilfe annehmen. Der Junge bildet die Ausnahme. Er ist Mitglied in einer Pfadfindergruppe, zu deren Aufgaben es gehört, älteren Menschen zu helfen. Ona lernt den Jungen kennen und willigt ein, ihn zu beschäftigen. Sie akzepiert den Jungen, obwohl er einige Marotten hat. Sie bemerkt bald, dass ihr das Kind seltsam vertraut ist, wie aus ihrer eigenen Kindheit kommend. Aber: „Irgendetwas an ihm war verstörend“...S.38

Ganz plötzlich, vollkommen unerwartet verstirbt der Junge...

Sein Vater Quinn wird von seiner Mutter Belle, Quinns zweifache Exfrau, aufgefordert, die Aufgaben des Kindes zu übernehmen. Durch Ona lernt Quinn seinen Jungen kennen, mit dem er nie etwas anfangen konnte. Sie zeigt ihm, wie sein Sohn wirklich war.

Die alte Dame erzählt dem 11jährigen Jungen ihre tiefsten Geheimnisse, die er auf Tonband aufnimmt. ONAS LEBENSGESCHICHTE, die sie vordem niemanden erzählte.
Sie sagt: „seine reglose Aufmerksamkeit wirkte wie ein Serum“...(S. 87)
Der kleine Junge vermag ihr erstaunliche Erkenntnisse und unglaubliche Begebenheiten zu entlocken.
Beispiele: Ona heiratete einen viel älteren Mann, der „im Schlafzimmer so brav und phantasielos“ ihre Narbe niemals bemerkte. (S. 85) ODER: Sie „verwechselte ...Freude fälschlicherweise mit Liebe“ (S. 161) und „heiratete ... Howard Stanhope aus unverzeihlicher Phantasielosigkeit“...(S. 162)...

Ona blickt selbstkritisch, vor allem in ihrer Lebensbeichte auf ihr langes Leben zurück.
Quinn indes bemerkt quälend und schmerzlich seine nicht mehr rückgängig zu machenden Fehler. Ist zutiefst verzweifelt und möchte wenigstens, dass zu Ende bringen, was sein Sohn begonnen hat.

Der Junge ist gestorben, aber er ist im gesamten Buch präsent. Er ist ständig gegenwärtig, durch seine Handlungen, die nachwirken, seine 10 Punkte Listen, seine Interviews mit Ona...

Für mich waren die Interviews teilweise nicht leicht zu erfassen. Man weiß zwar, dass die drei Punkte im Text für den Jungen stehen, seine handgeschriebenen Fragen. Es wäre besser gewesen, seine lautlosen Fragen wären nochmals formuliert worden. (evtl. in Klammern gesetzt)

Fazit:
Das Buch verlangt aufmerksames Lesen. Barbara Wood fordert ihre Leser, Konzentration ist gefragt.
Sie schrieb einen emotionalen, gefühlvollen, leisen, nachdenklichen Roman.
Sehr empfehlenswert! Fünf Sterne!